Im Rahmen des Themenschwerpunktes
Gehirn und Geist
lädt das Studium generale zu folgendem Vortrag ein:
 

Prof. Dr. Wolfgang Singer (Frankfurt/Main)
Zur Evolution von Bewußtsein
Dienstag, 4. Juli 2000, 18.15 Uhr
Hörsaal N 3 (Muschel)

Die Frage, ob und wie sich mentale und psychische Phänomene auf neuronale Prozesse im menschlichen Gehirn zurückführen lassen, beschäftigt heute Hirnforscher und Philosophen gleichermaßen. Eng damit verbunden ist die Frage, wie Bewußtsein in die Welt kam. Das Problem wird durch evolutions- und molekularbiologische Befunde verschärft, die darauf hinweisen, daß sich die molekulare Zusammensetzung von Nervenzellen seit ihrem ersten Auftreten bei Invertebraten nur geringfügig verändert hat. Ähnlich gut konserviert sind die Organisationsprinzipien, nach denen die Vertrebratengehirne aufgebaut sind. Unterschiede finden sich lediglich in der Zahl der Nervenzellen und ihrer Verschaltung. Dies legt die Schlußfolgerung nahe, daß die Emergenz neuer Qualitäten allein auf der Komplexitätszunahme von Gehirnen beruht.

Für eine Vielzahl höherer Hirnleistungen ist es heute möglich, die zugrundeliegenden neuronalen Prozesse anzugeben, und es darf als gesichert gelten, daß alle, auch die höchsten kognititven Funktionen, das Bewußtsein eingeschlossen, auf Wechselwirkungen zwischen Nervenzellen im Gehirn beruhen. Die von der modernen Hirnforschung entdeckten Organisationsprinzipien von Gehirnen weisen jedoch Merkmale auf, die diese deutlich von technischen informationsverarbeitenden Systemen unterscheiden, und manche dieser Eigenschaften widersprechen unserer Intuition. Dennoch ist zumindest vorstellbar geworden, wie sich mentale Phänomene, die nur aus der Ersten-Person-Perspektive erfahrbar sind, Empfindungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen, auf materielle Prozesse im Gehirn zurückführen lassen. Darüber hinaus gibt es jedoch Phänomene wie das Selbst-Bewußtsein, das Sich-Gewahrsein seiner eigenen Identität und die Selbstwahrnehmung als autonomes, in seinen Entscheidungen freies Wesen, die vermutlich erst dadurch in die Welt kamen, daß hochdifferenzierte Gehirne miteinander in Wechselwirkung traten, sich gegenseitig über ihre Erfahrungen austauschten, den natürlichen Objekten soziale Realitäten hinzufügten, und kulturelle Zuschreibungn erfanden.

Prof. Dr. med. Wolfgang Singer, geb. 1943; 1962 Beginn des Medizinstudiums an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 1965 Aufnahme in die Studienstiftung des Deutschen Volkes,1965/66 zwei Semester an der Faculté de Medicine, Université de Paris 3éme cycle de Neurophysiologie an der Faculté de Science Université de Paris, 1968 Staatsexamen und Promotion an der L.M.U. München, 1971 Ausbildungsaufenthalt an der Unversity of Sussex, England, 1975 Habilitation an der medizinischen Fakultät der TU München für das Fach Physiologie, 1981 Berufung zum wissenschaftlichen Mitglied der MPG und zum Direktor an das MPI für Hirnforschung, Frankfurt.

Einführende Literatur:
Singer, W. (in Druck): Vom Gehirn zum Bewußtsein. In: N. Elsner and G. Lüer (Hrsg.) Das Gehirn und sein Geist. Göttingen, Wallstein Verlag; Singer, W. (in Druck): Phenomenal awareness and conscoiusness from a neurobiological perspective. In: T. Tetzinger (ed) Neural Correlates of Consciousness – Empirical and Conceptual Questions. Cambridge, M.A.: MIT Press; Singer, W. (1999): Neuronal synchrony: a versatile code for the definition of relations? Neuron 24: 49–65.


Fragen zu den Veranstaltungen an das Sekretariat
Diese Seite wurde erstellt von Caroline Schertz Gehirn und Geist