Prof. Dr. Arbogast Schmitt
(Marburg)
Darstellung und Analyse
von Individualität
in der Antike
Mittwoch, 20. Juni 2001, 17.15 Uhr
Hörsaal N 3 (Muschel)
Die Individualität gilt als eine der großen Entdeckungen der Neuzeit. Jacob Burckhardt sprach von dem Schleier aus Autoritätsgläubigkeit, Kindesbefangenheit und religiösem Wahn, aus dem sich der Mensch der Neuzeit befreit habe, um endlich er selbst zu sein. Die Freiheit von jeder Form der Bestimmtheit durch Allgemeines, durch gesellschaftliche Konventionen, ethische oder ästhetische Normen, Autoritäten usw. wird damit als Entstehungsbedingung und als Erklärungsgrund von Individualität verstanden. An diesen Kriterien gemessen konnte man allerdings, angefangen von der homerischen Odyssee bis ins 20. Jahrhundert, an immer neuen Stationen belegen, daß hier zum ersten Mal Individualität ‚entdeckt‘ worden sei. Dieselben Kriterien konnten aber auch benutzt werden (etwa von Horkheimer-Adorno), um den zunehmenden Verfall von Individualität in Neuzeit und Moderne zu dokumentieren. Der Vortrag versucht demgegenüber nicht nur zu begründen, daß die Antike ein echtes Interesse an Individualität hatte, sondern auch einen philosophischen Begriff von Individualität, der geeignet ist, die Opposition des Allgemeinen, Typischen gegen das schlechthin unaussprechliche Individuelle zu überwinden: In der Reflexion auf die jedem Einzelnen gegebenen spezifisch menschlichen Vermögen und Fähigkeiten kann begründet werden, wie allgemeine Möglichkeiten des Menschen aus einer persönlichen Mitte heraus zu jeweils individueller Gestalt gebildet werden können. Im Vortrag soll dieses Individualitätskonzept an literarischen Darstellungen und philosophischen Analysen dokumentiert werden.
Professor Dr. Arbogast Schmitt war von 1982–1991 in Mainz und ist jetzt Professor für griechische Literatur und Philosophie in Marburg. Sein Forschungsschwerpunkt ist das Verhältnis der platonisch-aristotelischen Erkenntnistheorie zur Erkenntnistheorie der Neuzeit sowie die sich aus diesem Verhältnis ergebenden Folgen für das unterschiedliche Ver-ständnis von Ästhetik, Ethik und Politik in Antike und Moderne. Weitere Forschungsgebiete sind das homerische Epos, die attische Tragödie, die Dichtung des Hellenismus sowie deren Rezeption in Neuzeit und Moderne.
Literatur des Referenten zum Thema:
Freiheit und Subjektivität in der
griechischen Tragödie? In: Geschichte und Vorgeschichte der modernen
Subjektivität, Hrsg. von Reto Luzius Fetz, Roland Hagenbüchle
und Peter Schulz, de Gruyter: Berlin/New York, 1998, 91–118.
Selbständigkeit und Abhängigkeit
menschlichen Handelns bei Homer. Hermeneutische Untersuchungen zur
Psychologie Homers, AAWM 1990/5, Steiner Verlag: Stuttgart, 1990.
Der Einzelne und die Gemeinschaft in
der Dichtung Homers und in der Staatstheorie bei Platon und Aristoteles,
Wissenschaftl. Gesellschaft: Frankfurt/Main, 2000.
Nächste Veranstaltung in dieser
Reihe:
Dr. Ekkhard Verchau (Mainz)
Independenz über
alles.
Das Verhältnis des Schriftstellers
zur Gesellschaft am Beispiel Theodor
Fontanes
Mittwoch, 27. Juni, 17.15 Uhr, N 3 (Muschel)