Im Rahmen des Themenschwerpunktes

Umbruch: Tradition und Wandel in Deutschland

lädt das Studium generale zu folgendem Vortrag ein:
 

Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Oberndörfer (Freiburg i.Br.)
Sprachnation und Staatsnation
Nationenbildung in Europa und der Dritten Welt
Dienstag, 4. Mai 1999, 18.15 Uhr,
Hörsaal N 3 (Muschel)
 

Mit Ausnahme der Schweiz, Belgiens und Österreichs sind die Nationalstaaten Europas Sprachnationen. Sie begründen und legitimieren die eigene nationale Identität ideologisch aus ihren endogenen Nationalsprachen.

Die meisten außereuropäischen Nationalstaaten sind Staatsnationen. Ihre nationale Identität bildet sich ohne den ideologischen Kitt einer eigenen nationalen Sprache aus den Erfahrungen und der Geschichte des Staatsvolkes, der Bevölkerung des Staatsterritoriums. Der Vortrag vergleicht den unterschiedlichen Charakter und Stellenwert der Sprachen in der Nationenbildung europäischer Sprachnationen und außereuropäischer Staatsnationen. Er zeigt, daß die ideologische Hochstilisierung endogener Sprache zum angeblich unverzichtbaren Fundament nationaler Identität eine Spezialität Europas ist und in anderen Kontinenten eher eine Ausnahme darstellt. Die Staaten Lateinamerikas, Afrikas und viele Länder Asiens verfügen nicht über "eigene" Sprachen. Häufig werden die Sprachen der früheren Kolonialmächte oder Kunstsprachen als nationale Verwaltungs- und Verkehrssprachen verwandt. Die Innen- und Außenpolitik der meisten Staatsnationen belegt, daß ihr Nationalbewußtsein und Nationalismus nicht schwächer ausgebildet sind als die der europäischen Sprachnationen. Nationale Identität bildet sich auch ohne endogene eigene Nationalsprache. Staaten schaffen sich selbst.

In Osteuropa sind nach dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus museal gespeicherte und aufbereitete Überlieferungsmuster des Sprachnationalismus zu neuem Leben erwacht. Demgegenüber wurde in Westeuropa ein politischer Einigungsprozeß eingeleitet, der die Chance der Überwindung bisheriger nationalstaatlicher Aufspaltung in sich birgt. Wie zuletzt das Maastrichturteil des Bundesverfassungsgerichts zeigte, steht jedoch gerade in Deutschland die Ideologie der Sprachnation dem Aufbau einer europäischen Staatsnation noch immer im Wege. Daher wird abschließend das Maastrichturteil vor dem Hintergrund der Entstehung und Entwicklung von Staatsnationen außerhalb Europas – mehrheitlich vielsprachige Staatsnationen – bewertet.
 

Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Oberndörfer ist emeritierter Professor für Wissenschaftliche Politik an der Albert Ludwigs-Universität Freiburg und Direktor des Arnold Bergstraesser-Instituts für kulturwissenschaftliche Forschung. Von 1991–1994 war er Gründungsdekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Rostock.
 

Ausgewählte Publikationen des Referenten zum Thema:

Nächster Vortrag in dieser Reihe:

Dienstag, 11. Mai 1999, 18.15 Uhr, Hörsaal N 3 (Muschel)
PD Dr. Clemens Albrecht (Potsdam)
Von der Schuld- zur Verantwortungsgemeinschaft.
Legitimität durch Vergangenheitsbewältigung


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