MAINZER UNIVERSITÄTSGESPRÄCHE

Im Rahmen des Themenschwerpunktes


Medizin - im Widerspruch mit Ethik und Recht?


lädt das Studium generale zu folgender Veranstaltung ein:

Prof. Dr. Johannes Siegrist (Düsseldorf)


Gesellschaftliche Einflüsse
auf Gesundheit und Krankheit -
zur ethischen Dimension sozialer Ungleichheit


Mittwoch, 12. Februar 2003, 17.15 Uhr, Hörsaal P 10 (Philosophicum)

Die "molekulare Medizin" mit ihrer Konzentration auf genetische Krankheitsursachen bestimmt mehr und mehr die moderne Gesundheitsforschung in Theorie und Praxis. Demgegenüber tritt eine "ökologische Medizin" in den Hintergrund, welche den Einfluss der natürlichen und sozialen Umwelt auf die menschliche Gesundheit ins Zentrum rückt. Diese Verschiebung der Forschungsperspektive ist um so erstaunlicher, als den Einflüssen von Umwelt und Verhalten erwiesenermaßen der relativ größte Anteil am Zustandekommen weit verbreiteter chronischer Krankheiten in der Bevölkerung zukommt. Dies gilt in besonderem Maße für die von der Sozialstruktur einer Gesellschaft auf die Gesundheit ausgehenden Wirkungen. In allen modernen Gesellschaften, aus denen entsprechende Daten vorliegen, ist ein soziales Gefälle der Morbidität und Mortalität nachgewiesen worden: je niedriger die soziale Schichtzugehörigkeit, desto höher Krankheitslast und Frühsterblichkeit. So liegt beispielsweise die mittlere Differenz der Lebenserwartung zwischen Mitgliedern der obersten und der untersten Sozialschicht in skandinavischen Wohlfahrtsstaaten wie Finnland oder Schweden bei mehr als 6 Jahren.
Neue Forschungsergebnisse aus verschiedenen europäischen Ländern, die im Vortrag vorgestellt werden, belegen, dass diese soziale Ungleichheit nicht so sehr auf den unterschiedlichen Zugang zur medizinischen Versorgung zurückzuführen ist, sondern dass ihr vielmehr belastende, schichtspezifisch verteilte Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie gesundheitsschädigende Verhaltensweisen und Einstellungen zu Grunde liegen. Da diese Ungleichheiten in gewissem Umfang vermeidbar sind, ergeben sich aus ethischer Sicht neue Prioritäten für eine Gesundheitspolitik, welche Chancengleichheit hinsichtlich Gesundheit zu einem vorrangigen Ziel erklärt.
An zwei, durch den gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand besonders gut begründbaren Beispielen wird der auf verstärkte Prävention ausgerichtete gesundheitspolitische Handlungsbedarf konkret erläutert. Erstens wird am Beispiel der Förderung sozial benachteiligter Familien bzw. Alleinerziehender während Schwangerschaft und frühkindlicher Sozialisation gezeigt, von welchen materiellen und psychosozialen Hilfestellungen ein bedeutender Gesundheitsgewinn für die Kinder zu erwarten ist.
Zweitens werden Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung bei stark belasteten Berufsgruppen dargestellt, die sich aus neuen wissenschaftlichen Befunden zur Stressbelastung im Arbeitsleben direkt ableiten lassen (sog. Anforderungs-Kontroll-Modell, Modell beruflicher Gratifikationskrisen). Solche beruflichen Belastungen sind bei statusniedrigen Gruppen häufiger vorzufinden, so dass hier ein besonderer Gesundheitsgewinn (v.a. bezüglich Herz-Kreislaufrisiken, psychischen Störungen, muskulo-skeletalen Beschwerden) zu erwarten ist. Investitionen in eine gesundheitsförderliche Arbeitsgestaltung sind auch angesichts demografischer und ökonomischer Herausforderungen von Bedeutung. Sie legen eine Reduzierung der durch eingeschränkte Gesundheit wesentlich mitbedingten Frühberentung dringend nahe, die wiederum bei statusniedrigen Berufsgruppen besonders stark ausgeprägt ist.
Abschließend werden Chancen dieser zukunftsweisenden gesundheitspolitischen Orientierung skizziert und es wird auf die zu erwartenden Widerstände von Seiten einflussreicher Interessengruppen hingewiesen.

Prof. Dr. Johannes Siegrist ist Universitätsprofessor und Direktor des Instituts für Medizinische Soziologie an der Medizinischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (seit 1992) sowie Leiter des Zusatzstudienganges Public Health an der Universität Düsseldorf.

 

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