MAINZER UNIVERSITÄTSGESPRÄCHE

 

Im Rahmen des Themenschwerpunktes

Bücher der Weisheit – Lehren fürs Leben

lädt das Studium generale zu folgender Veranstaltung ein:

 

Prof. Dr. Rudolf G. Wagner (Heidelberg)

Die Unhandlichkeit des Konfuzius.

Eine chinesische Lektüre der 'Gespräche' (Lunyu)

Mittwoch, 14. Januar 2004, 18.15 Uhr

Hörsaal N 3 (Muschel)

 

Am Ende der Han-Zeit vor etwa 1800 Jahren bezeichnete der Kommentator Zhao Qi die 'Gespräche' des Konfuzius als die 'Nabe' der Fünf Klassiker, den 'Schlund', durch den 'die sechs Künste passieren mussten.' Kompiliert von den Enkelschülern des Konfuzius, die aufzeichneten, was ihre Lehrer, die noch direkt beim Meister studiert hatten, ihnen übermittelt hatten, wuchs den 'Gesprächen' allmählich selbst der Charakter eines Klassikers zu. Die chinesischen 'Klassiker' sind eine Textkategorie, die den "Weisen" des Altertums zugeschrieben werden, deren letzter Konfuzius war. Ihre Einsicht in die komplexe Mechanik von Welt und Gesellschaft begriff auch, dass Sprache ein vielleicht unverzichtbares, aber auch sehr unbeholfenes Instrument ist, um diese Komplexität wiederzugeben. Ihre Sprache ist darum "subtil" und besteht in Hinweisen über den Text hinaus. Das macht sie vielfach kommentarbedürftig; entsprechend wurden hunderte von Kommentaren in China von den bedeutendsten Gelehrten und Politikern seit der Han-Zeit geschrieben, die versprachen, die verborgenen Hinweise sichtbar zu machen. Die Missionare und später Sinologen, die sich seit dem 19. Jahrhundert daran machten, die chinesischen "Klassiker" in westliche Sprachen zu übertragen - im Deutschen ist vor allem Richard Wilhelms Übersetzung weit verbreitet - lehnten sich stark an die Lektüre ihrer chinesischen Lehrer an. Ihnen war nicht bewusst, dass diese eine sehr partikulare historisch spezifische Lektüre anboten, die sich aus einer über das Staatsexaminationssystem staatlicherseits durchgesetzten Orthodoxie ('Neokonfuzianismus') herleitete. In dieser Lektüre waren die 'Gespräche' eine Art Katechismus von moralischen Maximen, wie man sie jungen Menschen zur Einführung an die Hand geben mag. Das Stilmodell, an welchem sich die westlichen Übersetzungen orientierten, war entsprechend der protestantische Katechismus. Dabei spielte es keine Rolle, dass man im Text der 'Gespräche' selbst vergeblich nach Imperativen suchen wird (Du sollst..., du sollst nicht...). Die wissenschaftlich sinologische Forschung ging mit einem anderen westlichen Gedankenmodell an die Klassiker heran. Diese speiste sich aus der kritischen Bibelforschung.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich hier eine Wissenschaft entwickelt, die das hebräische und das christliche Testament "wissenschaftlich" und textkritisch untersuchen wollte. Sie ist gekennzeichnet durch eine Frontstellung gegen die "Scholastik" und den Auslegungsstil der Sonntagspredigt. Die unfreiwilligen Opfer dieser europäischen Konstellation wurden die chinesischen Klassikerkommentare. Mit der hohen Stirn der "modernen Wissenschaft" eliminierten die Sinologen die chinesische historische Lektüre der Klassiker als für deren Verständnis nutzlose und gar hinderliche "Scholastik" und reduzierten den Dialog auf einen zwischen der "modernen (westlichen) Wissenschaft" und dem "Urtext", von dem gut biblisch unterstellt wurde, dass er über lange Zeit in einem diffusen Prozess aus verschiedenen Materialien entstanden sei, über die spätere Editoren einen Schleier der Homogenität gelegt hätten, den es wegzureißen galt. China selbst ist in dieser Lektüre nicht imstande, seine eigenen Klassiker zu verstehen. Erst die moderne westliche Wissenschaft vermag, China deren Sinn zu entschlüsseln. Der Vortrag wird den umgekehrten Weg gehen. Er wird versuchen, die Kategorien freizulegen, in denen die 'Gespräche' in China selbst wahrgenommen und gelesen wurden, und sich dabei vor allem auf frühe chinesische Kommentare des zweiten und dritten Jahrhunderts stützen, vor allem Wang Bi (226-249). Die Frage wird dabei sein, ob die Ansätze der chinesischen Kommentare "wissenschaftlich" fruchtbare Ansätze und Einsichten enthalten, deren Marginalisierung als "Scholastik" nur um den Preis eines ganz erheblichen Sinnverlustes erkauft werden kann.

Rudolf G. Wagner ist seit 1987 Professor für Sinologie in Heidelberg. Sein Forschungsgebiet ist die chinesische Geistesgeschichte. Nach der Ausbildung in Heidelberg, Paris und München forschte er vor allem in den USA (Cornell, Harvard, Berkeley). Zu seinen in der Regel englischsprachigen Veröffentlichungen gehören Arbeiten im Bereich der frühmittelalterlichen Philosophie (The Craft of a Chinese Commentator, Wang Bi on the Laozi, 2000; A Chinese Reading of the Daodejing: Wang Bi's Commentary on the Laozi, 2003; Language, Ontology and Political Philosophy in China: Wang Bi's Scholarly Exploration of the Dark, 2003), zur Religionsgeschichte des 19. Jahrhunderts (Reenacting the Heavenly Vision: The Role of Religion in the Taiping Rebellion, 1983) und zum Verhältnis von Literatur und Politik im modernen China (Inside a Service Trade. Studies in Contemporary Chinese Prose, 1992; The Contemporary Chinese Historical Drama. Four Studies, 1994; Literatur und Politik in der VR China, 1990). Er ist Träger des Leibniz-Preises, der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnung in Deutschland, sowie Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Gegenwärtig ist er Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Schriftenverzeichnis und weitere Informationen unter http://sun.sino.uni-heidelberg.de/staff/wagner/

 

Nächste Veranstaltung in dieser Reihe:

Prof. Dr. Karl Pestalozzi

(Professor em. für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Universität Basel)

Friedrich Nietzsches "Also sprach Zarathustra"

Mittwoch, 21. Januar 2004, 18.15 Uhr, Hörsaal N 3 (Muschel)