BiographieGerhard
Grohs, (1929 -
2015)
Thomas Bierschenk (2016)*
Gerhard
Grohs war einer der
Mitbegründer der interdisziplinären und
gegenwartsbezogenen Sozialwissenschaften
Afrikas in Deutschland und seit den 1960er Jahren einer der
führenden Vertreter
dieses Fachgebietes. Vor dem Hintergrund seiner weitläufigen
nationalen und
internationalen Vernetzungen und jahrelangen akademischen Erfahrungen
im europäischen
Ausland und in Afrika interessierte er sich schon früh
für heute noch aktuelle
Themen wie Eliten und Mittelklassen, staatliche Verwaltung im Globalen
Süden,
kulturelle Abhängigkeitsverhältnisse, die Folgen von
Kolonisation und
Dekolonisation, afrikanische Literaturen, das postkoloniale Engagement
der
Kirchen und Fragen der Ästhetik. Er war der erste Autor, der
sich in
Deutschland intensiv mit Frantz Fanon auseinandersetzte, und einer der
ersten,
der zum lusophonen Afrika forschte. Er war auch Verfasser oder
(Mit-)Herausgeber mehrerer Bücher bzw.
Zeitschriftenaufsätze, die zu Klassikern
der modernen deutschsprachigen Afrikaforschung wurden (1964, 1967,
1970, 1972,
1973). Sein Interesse an Afrika war eingebettet in seine
Überzeugung von der
Möglichkeit eines eigenständigen, christlich
fundierten Sozialismus; aus dieser
Überzeugung rührte seine Sympathie für
Julius Nyerere, Staatspräsident
Tansanias von 1960 bis 1985 und Vertreter eines afrikanischen
Sozialismus.
Nachdem er 1975 an das Mainzer Institut für Ethnologie und
Afrikastudien
berufen worden war, verstand er sein Professorenamt zunehmend
politisch-aktivistisch:
Überzeugt von der politischen Verantwortung sowohl des
Wissenschaftlers wie des
Christen, engagierte er sich im Rahmen des Weltkirchenrates, der
Vereinigung
für Afrikanisten in Deutschland (VAD) und der
Universität in Kampagnen vor allem
gegen das Apartheitsregime in Südafrika, für
Menschenrechte und gegen Rassismus
sowie für die Bekämpfung von Aids. Die soziologische
Erforschung des modernen
Afrika machte jedoch nur einen Teil seines wissenschaftlichen Oeuvres
aus. Bevor
Gerhard Grohs Anfang der 1960er Jahre Afrika sozusagen für
sich entdeckte,
hatte er zehn intellektuell fruchtbare Jahre hinter sich, in denen
Afrika gar
keine Rolle gespielt hatte. Geboren wurde er 1929, als
zweites von fünf Kindern des
Agrarökonomen Dr. Gerhard Grohs sen. und seiner Frau
Elisabeth, geb. Poske, die
in Münster einen durchaus großbürgerlichen
Haushalt führten. Der von einem Gut
in Ostpreußen stammende promovierte Agrarökonom
Gerhard Grohs sen. war im Ersten
Weltkrieg Berufsoffizier gewesen, und schwer verwundet worden (er
verlor einen
Arm). Nach dem Krieg arbeitete er bei der gemeinnützigen
Siedlungsgesellschaft „Rote
Erde“, deren Geschäftsführer er von 1934
und bis 1959 war, unterbrochen von
einer Tätigkeit als Reserveoffizier im Generalstab 1941 bis
1945. Die Siedlungsgesellschaft
betrieb die Entwässerung von Mooren und Ödland in
Westfalen und siedelte auf
dem verwertbar gemachten Land Bauern, oft Vertriebene aus den
Ostgebieten, an.
Für sein „bahnbrechendes und sozial so wichtiges
Werk“ erhielt Gerhard Grohs
sen. im Jahre 1959 das Bundesverdienstkreuz. Gerhard Grohs jun.
verbrachte die
letzten Jahre des Zweiten Weltkrieges in der Kinderlandverschickung in
Tegernsee, während seine Geschwister mit ihrer Mutter unter
wesentlich
schlechteren Bedingungen in Prerow an der Ostsee wohnten. Nach dem Abitur 1950 studierte
Gerhard Grohs jun. zunächst
Jura in Münster, München und Heidelberg. Er wurde
bald in die
Stipendiatengruppe des Evangelischen Studienwerkes Villigst
aufgenommen, die
von ihren Stipendiaten erwartete, daß sie mindestens sechs
Monate als
sogenannte „Werkstudenten“ arbeiteten –
Gerhard Grohs tat das im Tiefbau der
Stadtwerke Dortmund im Winter 1950/51, was, wie er sich erinnerte,
„recht hart
war“ (1998: 303). Schon zwischen Abitur und Studienbeginn
hatte er mehrere
Monate lang als freiwilliger Helfer in einem evangelischen Heim
für „Schwererziehbare“
verbracht. Im Jahre 1955 schloß
er sein Studium der Rechte mit dem
ersten juristischen Staatsexamen ab. Anschließend arbeitete
er als Referendar
im nordrhein-westfälischen Justizdienst. Das scheint ihn
allerdings nicht
ausgefüllt zu haben, und da das Landgericht direkt
gegenüber der Universität
lag, nahm er dort an soziologischen Seminaren teil, unter anderem bei
Hans
Freyer, der als Emeritus seit 1953 in Münster lehrte, und der,
wie Grohs
berichtet (1998), von seinen Studenten erwartete, daß sie
für jede
Seminarsitzung ein Buch lasen, darunter viele in englischer oder
französischer
Sprache. Als Grohs dann das ersehnte Stipendium für
Auslandsaufenthalte bekam, erst
in Paris und dann in Pisa, war das für ihn ein willkommener
Anlaß, den
Justizdienst abzubrechen. Das Ergebnis dieser Auslandsaufenthalte waren
gleich
zwei Studien – die Dissertation (1959), eine
rechtsvergleichende Studie über
das italienische Tarifrecht, und eine Arbeit für die
Montanunion über
Möglichkeiten der Vereinheitlichung von Tarifgesetzen (1958). Die prägendsten
Studienjahre waren allerdings für ihn
wahrscheinlich seine Zeit als Studentenpolitiker: Im Jahr 1952 war
Gerhard
Grohs zum ASTA-Vorsitzenden in Heidelberg gewählt worden, im
Jahr darauf zum
Zweiten Vorsitzenden im vierköpfigen Vorstand des Verbandes
Deutscher
Studentenschaften (VDS) in Bonn. (Für diese
verantwortungsvolle Aufgabe schlug
er ein Stipendium in Yale aus.) Man muß sich die
Tätigkeit im Vorstand des VDS
als einen Vollzeitjob vorstellen, der ihn wie
selbstverständlich auch in
direkten Kontakt zu Mitgliedern der bundesrepublikanischen Verwaltungs-
und
politischen Elite brachte Mit anderen Worten: Zu jener
Zeit waren engagierte Studenten
– damit in gewisser Hinsicht afrikanischen Studenten in den
zwei Jahrzehnten
nach der Unabhängigkeit ähnelnd – ganz
fraglos ein Teil nationaler Eliten, der
im Fall der Bundesrepublik Deutschland den (Wieder-)Aufbau und die
Versöhnung
mit den ehemaligen Kriegsgegnern betrieb. Der VDS entwickelte in der
Zeit, als
Grohs dessen zweiter Vorsitzender war, das „Honnefer
Modell“, aus dem später
das Bafög hervorging, er entwarf einen Plan zur
Förderung von
Studentenwohnheimen, den späteren
„Bundeswohnheimplan“ und er initiierte, auf
Grohs’ ganz persönliches Engagement hin, 1956 den
Bau des Maison d’Allemagne (Maison
Heinrich Heine) der Cité Universitaire Internationale in
Paris. Das Jurastudium war allerdings
für Gerhard Grohs
offensichtlich nur eine Art Pflichtübung gewesen, zu der ihn
wahrscheinlich
sein Vater gedrängt hatte. Mit der Promotion in Jura
fühlte er sich endlich
frei, das seit langem anvisierte Soziologiestudium –
sozusagen die
intellektuelle Kür – beginnen zu können.
Als Studienort habe er Berlin gewählt,
das – anders als damals Frankfurt durch Horkheimer und
Adorno, Hamburg durch
Dahrendorf, Münster durch Schelsky und Köln durch
René König – nicht durch eine
einzige soziologische Schule unter einem charismatischen Lehrer
geprägt war,
sondern wo man in einem gewissen Sinne Vertreter aller dieser
soziologischen
Schulen finden konnte (1998: 306). Das mag eine nachträgliche
Rationalisierung
sein, aber auffällig an Grohs’
afrikawissenschaftlichen Oeuvre sollte später werden,
wie schwer man es einer der seinerzeit üblichen Schulen der
Entwicklungsländer-Forschung zuordnen kann. Sein Studium der Soziologie,
mit den Nebenfächern
Geschichtswissenschaften und Psychologie, schloß Grohs 1961
mit einer
Diplomarbeit zur Architekturtheorie ab (1961), die er später
in mehreren
Aufsätzen im Europäischen Archiv für
Soziologie veröffentlichte (1963,1964, 1970,
siehe auch 1971) – einer davon wurde später auch in
einen Reader zur
Kunstsoziologie aufgenommen (1979). Seine Festschrift zum 65.
Geburtstag nimmt
diese frühen Interessen an Ästhetik übrigens
wieder auf und bezieht sie auf den
Globalen Süden (Neubert und Thimm 1994). Daß das
Institut für Ethnologie und
Afrikastudien in Mainz gegenwärtig eine Professur für
Ethnologie und Ästhetik
einrichtet, hätte er sicher mit Wohlwollen aufgenommen. Aus heutiger Sicht
fällt bei der Betrachtung dieser frühen
Vita die ausgeprägte universitäre Debattenkultur auf,
an der Grohs regen Anteil
hatte. Diese Diskussionskultur integrierte Vertreter vieler
verschiedener Wissenschaften
sowie alle Statusgruppen der Universität, Studenten,
Mitarbeiter und Professoren,
und sie existierte sowohl in den eigentlichen Veranstaltungen der
universitären
Lehre, also den Seminaren, aber sozusagen auch darum herum, vor und
nach dem
Seminar, im Studentenheim am Abend, bei Treffen und Ausflügen.
Es handelte sich
um eine Art selbstorganisiertes Studium Generale. Diskutiert wurden die
vielfältigsten Themen: Im Studentenheim in München
debattierte Grohs mit seinen
Kommilitonen über Demokratie, Sozialismus, Militär
und Christentum; in
Heidelberg ging es im Collegium Academicum vor allem um
Kunstgeschichte; und in
der Stipendiatengruppe des Evangelischen Studienwerkes Villigst standen
psychologische und medizinische Fragen im Vordergrund. In den Passagen,
die
Grohs später in seiner Habilitationsschrift über die
Funktion der
Studentenheime und studentischen Gruppen für die Ausbildung
der wissenschaftlichen
und politischen Überzeugungen der postkolonialen afrikanischen
Eliten schrieb
(1967: 107-118), schwingen somit sicher auch Erinnerungen an
vergleichbare Erfahrungen
in der eigenen Studentenzeit mit. Auffällig ist zudem die
europäische Dimension
der Studienzeit, die später mit Gastaufenthalten in Leicester
und Dar-es-Salam
fortgesetzt und erweitert wurde. Während seines
Aufenthaltes in Paris wohnte Grohs in dem von
ihm mitbegründeten Maison Heinrich Heine, wo er auch seine
spätere Frau
Elisabeth kennenlernte.[1]
Sie sollten
1961 nach seiner Rückkehr aus Westafrika heiraten. Elisabeth
hatte zunächst
eine Lehre als Hotelkauffrau absolviert, anschließend
Sprachen in der Schweiz
und in Frankreich studiert und als Fremdsprachensekretärin in
Brüssel
gearbeitet. Nach ihrer Heirat nahm sie an der Freien
Universität Berlin ein
Studium der Ethnologie, Psychologie und Pädagogik auf, das
sie, als studierende
Ehefrau und Mutter zweier Kinder, 1965 mit einer Magisterarbeit zur
Mädchenbildung
in Nordnigeria (veröffentlicht als Grohs 1972) und 1977 mit
der Promotion
abschloß (Grohs 1980). Sie verfolgte eine
unabhängige wissenschaftliche
Karriere und gab der Gender-Ethnologie wichtige Impulse, die sie nach
1975 auch
in die Lehre in Mainz einbrachte (www.frauenbuero.uni-mainz.de). Neben seinem Soziologiestudium
arbeitete Grohs im Institut
für Politische Wissenschaften der Freien Universität
Berlin an einer von Otto
Stammer koordinierten Studie über politische Verbände
in Deutschland mit (1965).
Stammer empfahl ihn, den welt- und sprachgewandten promovierten
Juristen mit
soziologischer Ausbildung, einer Arbeitsgruppe, die damals in der Villa
Borsig
am Tegeler See begann, die Deutsche Stiftung für
Entwicklungsländer (DSE) aufzubauen.[2]
Die
Arbeitsgruppe veranstaltete Tagungen mit Beamten aus der
„Dritten Welt“ (wie
der Begriff damals lautete). Grohs begann, sich vor allem für
die Afrikaner
unter ihnen zu interessieren. Er befragte sie zu ihrer Ausbildung und
ihrem
beruflichen Werdegang. Besonders interessierte er sich dafür,
wie sie die
Konflikte zwischen ihren Kindheitserfahrungen und ihrer Ausbildung in
Paris,
London oder den USA bewältigt hatten. Damit hatte er das Thema
für seine
Habilitationsschrift gefunden, in die auch viele seiner Vorerfahrungen
direkt
oder indirekt mit einfließen konnten: Jurastudium und
Justizdienst,
Hochschulpolitik und Engagement in der evangelischen Studentenschaft,
ein
Studium in drei Ländern und ein jahrelanges Interesse an einem
weitgefächerten
Themenspektrum, das vom europäischen Tarifrecht über
die politischen Verbände
in Deutschland und die Geschichtswissenschaft in die Psychologie und
die
Kulturtheorie reichte. Für seine geplante
Studie zur Entstehung der neuen, westlich
gebildeten afrikanischen Eliten arbeitete er in Bibliotheken in London
und
Paris. Mit einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)
reiste
er zu Bibliotheks- und Archivstudien nach Westafrika, dem Schwerpunkt
seiner
empirischen Untersuchungen. In Ghana lernte er Norbert Elias kennen,
der dort
von 1962 bis 1964 als Professor an der neugegründeten
University of Ghana
lehrte. Das Thema der 1967 bei
Kohlhammer unter dem Titel „Stufen
afrikanischer Emanzipation. Studien zum Selbstverständnis
westafrikanischer
Eliten“ veröffentlichten Habilitationsschrift waren
die educated Africans
beziehungsweise évolués:
die wesentlichen afrikanischen Akteure im Prozeß der
Dekolonisation. Vor allem interessierte ihn, auch in kritischer
Auseinandersetzung mit Malinowski (1949), das „Selbstbild des
vom Kulturwandel
betroffenen westlich gebildeten Afrikaners“, dessen
Beziehungen zu den „Fremdbildern,
die Afrikaner von Weißen haben“ (1967: 13) und ganz
allgemein die Reaktion
gebildeter Afrikaner auf Kolonisation, Christentum und westliche
Zivilisation. Zur Bearbeitung dieser Thematik
zog Grohs eine damals ganz
ungewöhnliche Art von Quellen heran, nämlich
einerseits von Afrikanern verfaßte
moderne, sogenannte „schöne“ Literatur,
insbesondere vom Typ des Entwicklungsromans,
sowie (Auto-)Biographien von Afrikanern, deren älteste aus dem
18. Jahrhundert
stammte. Mit anderen Worten interessierte ihn, den Soziologen, der
„Standpunkt
des Afrikaners“, also der emische Blickwinkel der Akteure. Er
analysierte nicht
bloß den Prozeß der Dekolonisation, sondern
versuchte, einer Hauptgruppe der an
diesem Prozeß Beteiligten eine Stimme zu verleihen. Lange
bevor postmoderne
Überlegungen in die deutschen Sozialwissenschaften Eingang
fanden, ging es ihm
um eine dialogische oder polyphone Darstellung des Sozialen. Postmodern
wirkt
auch sein intensives Interesse an Kultur, das sich in diesem Buch
ausdrückt. Grohs
setzte die politische vor allem mit kultureller Abhängigkeit
in Beziehung, und
weniger, wie es die kurz darauf einsetzende Woge der Dependenztheorie
tat, mit
wirtschaftlicher. Anders als manche der späteren, extremeren
postmodernen
Strömungen und anders auch als viele seiner Kollegen, die sich
damals der
Dependenztheorie verschrieben, verlor er dabei nie die empirische
Bodenhaftung.
Als der Verband der Afrikanisten in Deutschland (VAD) sich fast zwanzig
Jahre
später wieder dem Thema der afrikanischen Eliten zuwandte, war
sein Beitrag zu
dem daraus entstandenen Sammelband der einzige solid-empirische, aus
dem der
Leser tatsächlich auch etwas über Eliten
erfährt (Grohs 1983). Der afrikanische Nationalismus
der 1950er und 1960er Jahre,
so lautet ein Hauptergebnis von Grohs’ Analyse,
läßt sich bei den Führern des
antikolonialen Befreiungskampfes in Afrika als eine Verarbeitung von
Traumata
interpretieren, insbesondere der Erfahrungen in den Missionsschulen und
beim
Studium in Europa. Diese Traumata und ihre Verdrängung waren
gleichsam „die Frucht
einer enttäuschten Liebe“ (Grohs 1967: 117f. und
passim; mit dem gleichen Tenor
auch Grohs 1964b: 457-467), und sie produzierten Aggressionen, die im
Nationalismus
ihr Ventil fanden, beziehungsweise die dort sublimiert wurden. Der
afrikanische
Nationalismus kann somit als eine Form der psychologischen Entlastung
von
tiefsitzenden Verletzungen verstanden werden. Dies ist die
sozialpsychologische
Interpretation. Soziologisch gesehen,
produzierte die Kolonialherrschaft in
einem dialektischen Prozeß somit selbst die späteren
Träger ihrer Abschaffung. Es gehört zur Paradoxie
dieser Situation, daß es
Erscheinungen des Kolonialismus selbst waren, die diese Entwicklung [den
Widerstand der afrikanischen Nationalisten gegen das Kolonialsystem]
auslösten:
die Missionsschulen, die europäischen Universitäten,
die „Weltkriege“, die
letzten Endes doch europäische Kriege waren, und
europäisch-christliche Ideen
von Gleichheit, Selbstbestimmung und individueller Freiheit. Es ist
nicht ohne
Ironie, daß diejenigen, die diesen Kampf anführten,
selbst glänzende Produkte
europäischer Entwicklung waren […]
(Grohs 1967: 176). In
den diesen Themen gewidmeten Teilen
ist die Studie von 1967 ein umfassender Beitrag zur Sozialgeschichte
und zur
Soziologie Westafrikas, insbesondere zur Geschichte und Soziologie des
Bildungssystems,
zur Religionsgeschichte und zur Religionssoziologie, wobei Grohs
– angesichts
seiner Herkunft vielleicht nicht überraschend, aber deshalb
nicht weniger
plausibel – den protestantischen Kirchen eine besondere Rolle
bei der „Inkubation“
des afrikanischen Nationalismus zuschreibt. Und last
but not least ist das Buch ein Beitrag zu einem ganz neuen
Fach
(wenn nicht gar dessen Begründung), nämlich der
afrikanischen
Literaturgeschichte und -soziologie. Vorbedingung der
politisch-organisatorischen Emanzipation,
die im Erreichen der Unabhängigkeit gipfelte, waren laut Grohs
erste Schritte
einer kulturellen Emanzipation: Sie drückte sich
beispielsweise in der
beginnenden Afrikanisierung des Christentums, in der Diskussion um die négritude beziehungsweise die African personality sowie in dem sich
entwickelnden wissenschaftlichen Interesse an afrikanischer Geschichte
aus.
Diese kulturelle Emanzipation blieb allerdings immer durch ihre
negative
Fixierung auf das europäische Vorbild begrenzt. Ganz deutlich
wird das für
Grohs in den Ideologien des afrikanischen Nationalismus,
Panafrikanismus und
afrikanischen Sozialismus, die für ihn Ideologien des
antikolonialen
Widerstandes waren. Sie bleiben als bloße Negation der
kolonialen Situation
dieser weiterhin verhaftet. Als geistige Grundlage der
gesellschaftlichen
Entwicklung der unabhängigen afrikanischen Staaten, so lautet
die hellsichtige
Prognose, sind sie dagegen nur von begrenztem Wert (Grohs 1967:
225-229). Der intellektuelle Austausch
mit Elisabeth Grohs ist in dem
Buch deutlich zu spüren, vor allem in den langen Passagen zur
afrikanischen
Erziehung und in dem intensiven – heute zwar politisch
korrekten, zur damaligen
Zeit aber einigermaßen ungewöhnlichen
– Interesse an der sozialen Situation
gebildeter afrikanischer Frauen, die mit der Voraussage
schließt, „daß die
Emanzipation des Afrikaners erst durch die Emanzipation der Afrikanerin
vollendet werden kann“ (Grohs 1967: 224). Parallel zur Arbeit an dieser
Studie zu den (wie wir heute
sagen würden) afrikanischen Mittelklassen hatte Grohs
(anscheinend angeregt durch
seinen Freund Franz Ansprenger) Frantz Fanon gelesen. Grohs war der
erste
deutsche Afrikawissenschaftler und einer der ersten nicht-frankophonen
überhaupt, der zu Fanon publizierte; seine
Habilitationsschrift war in gewisser
Hinsicht ein Versuch, Fanon nicht nur empirisch
„anzuwenden“, sondern dessen Thesen
auch in vergleichender Perspektive empirisch zu grundieren und zu
nuancieren.
An Fanon interessierte Grohs zum einen seine Theorie des Kolonialismus
als
eines Mechanismus der Konstitution des kolonialen Subjektes.
Kolonialismus war,
jenseits aller wirtschaftlichen und politischen Faktoren, ein
kulturelles oder
auch sozialpsychologisches Abhängigkeitsverhältnis
– ein Thema, auf das Grohs
später immer wieder zurückkam. Zum anderen war es
Fanons Revolutionstheorie,
die Grohs dazu motivierte, sich mit Revolutionstheorien im Globalen
Süden
empirisch auseinanderzusetzen. In einer Zeit, als linke Studenten in
Deutschland aus den Thesen Maos und Che Guevaras direkte
Handlungsanweisungen
für den politischen Kampf hierzulande ableiteten (was Grohs
für einen Kurzschluß
hielt), dachte Grohs vielmehr von der Peripherie her: Ihn interessierte
vor
allem der empirische soziale Kontext, in dem diese Theorien entstanden
waren,
und die sich aus diesen Kontexten ergebenden Perspektiven einer
sozialen
Revolution im Globalen Süden. Wenn er diese Perspektiven auch
in
wirtschaftlicher und politischer Hinsicht eher skeptisch
einschätzte, so hielt
er es gleichzeitig für ungenügend, „zur
Beurteilung des Erfolges einer
Revolution nur auf solche Daten zu achten“ (Grohs 1970a:
572). Revolutionäre
Bewegungen in der „Dritten Welt“ drückten
vielmehr, in den Worten des von ihm
zitierten südafrikanischen Romanciers Peter Abrahams, in
erster Linie „ein
verzweifeltes Verlangen nach Selbstachtung“ aus (Grohs 1970:
572). Dieser sozialpsychologische
Aspekt der kulturellen Befreiung durch revolutionäre Gewalt,
so argumentierte
Grohs, sei von den meisten westlichen Beobachtern übersehen
worden (Grohs 1970a:
573). Während Grohs auf den
Fortgang seines
Habilitationsverfahrens wartete, ging er, vermittelt durch den Kontakt
mit
Norbert Elias, für ein Jahr als Gastdozent nach Leicester;
anschließend war er
für kurze Zeit Mitarbeiter am neugegründeten
Deutschen Institut für
Entwicklungspolitik. Seine britischen connections
halfen ihm kurz darauf bei der erfolgreichen Bewerbung um eine
zweijährige
Gastdozentur an der Universität Dar-es-Salam, damals ein
blühendes Zentrum der
internationalen Afrikawissenschaften. Es wurde getragen von einer
höchst
illustren Gruppe europäischer und afrikanischer
Wissenschaftler, die von
Nyereres afrikanischer Version des Sozialismus fasziniert waren. Am history department wurde von Terence
Ranger, John Lonsdale und John Iliffe eine (von Kritikern polemisch so
bezeichnete) new historiography
entwickelt; am sociology department
lehrten Wissenschaftler wie John Saul, Giovanni Arrighi, Lionell Cliffe
und
Walter Rodney – Bekanntschaften, die später zu
vielen Einladungen an die
Institute in Berlin und Mainz führten. Insgesamt versammelte
der Lehrkörper
mehr als dreißig Nationen. Gemeinsam war ihnen das Interesse
an „afrikanischen
Initiativen“ in Geschichte und Gegenwart, also der Versuch,
die Welt von afrikanischen
Akteuren her zu denken. Deutsche waren zunächst
außer Grohs nicht vertreten
(mit Ausnahme des aus der DDR stammenden Literatur- und
Theaterwissenschaftlers
Joachim Fiebach; später kamen Michaela von Freyhold und Frantz
Ansprenger
hinzu). In der Tat hatte Grohs’ Betreuer im
Habilitationsverfahren,
Hans-Joachim Lieber, der mittlerweile Rektor der FU geworden war, die
Afrikapläne
des Familienvaters Grohs für „ziemlich abenteuerlich
und unverantwortlich“ (Grohs
1998: 309) gehalten. Grohs teilte die Perspektiven
seiner Kollegen in
Dar-es-Salam und entwickelte, vor dem Hintergrund seiner Rezeption
Fanons, eine
besondere Sympathie für Julius Nyerere, dem er zugutehielt,
„eine humanistische
und soziale Interpretation des Christentums mit den traditionellen
Ideen des
Sozialismus zu verbinden“, die sich an den praktischen
Bedingungen eines
peripheren Landes wie Tansania orientierte (Grohs 1972b: 4). In
Nyereres
Prinzipien von „ujaama“ (interpretiert als die in
Solidarität eingebettete
Gleichheit aller Bürger) und
„self-reliance“ sah der evangelische Christ Grohs
„eine gewisse Nähe zu den Prinzipien der
Solidarität und Subsidiarität der katholischen
Soziallehre“ (Grohs 1972b: 5). Läßt man
das Adjektiv ‚katholisch‘ weg, so liegt
nahe, aus diesen Formulierungen auch eine Selbstbeschreibung
herauszulesen. Die unruhigen Berliner Jahre
zwischen 1969 bis 1975 erlebte
Grohs am Institut für Soziologie der FU, das nach dem Berliner
Hochschulgesetz
von 1969 von einem schnell ausgeweiteten Mittelbau dominiert wurde, zu
dem als
Assistenzprofessor auch Grohs gehörte (Ganßmann
2013). Viele Professoren des
Instituts, darunter auch Grohs’ Mentoren Lieber und Richard
R. Behrendt, zogen
sich dagegen zurück – entweder in ihre
Doppelmitgliedschaften in den kurz zuvor
gegründeten Regionalinstituten oder, indem sie die FU ganz
verließen. In dieser
Zeit (1972) gründete Grohs mit Kollegen die „Sektion
Entwicklungssoziologie“
der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, an deren Tagungen
er seitdem
regelmäßig teilnahm.[3] In seiner Berliner Zeit wurde
Grohs auch in die Synode der
Berliner Kirche gewählt und gehörte dort zu einer
Gruppe um Bischof Scharf,
Professor Gollwitzer und Heinrich Albertz, dem ehemaligen Regierenden
Bürgermeister
von Berlin. Von vielen kritischen Studierenden wurden die Mitglieder
dieser
Gruppe als Vertreter des Establishments gesehen, sie waren als
Gesprächspartner
aber dennoch geschätzt. Grohs teilte mit der Gruppe das
Interesse an einem
eigenständigen, christlich fundierten Sozialismus. Damit
begann ein
langjähriges politisches und wissenschaftliches Engagement in
der evangelischen
Kirche, das sich mit den Jahren zunehmend intensivierte, und in dessen
Rahmen
Grohs die deutsche staatliche und kirchliche-protestantische
Entwicklungspolitik
nicht nur analysierend begleitete, sondern oft auch
beeinflußte. Einige Jahre
später wurde Grohs auch Mitglied der Synode der Evangelischen
Kirche
Deutschlands (EKD), sodann Mitglied, später auch Vorsitzender
ihrer Kammer für
den kirchlichen Entwicklungsdienst (jetzt Kammer der EKD für
nachhaltige
Entwicklung). Er war einer der Autoren, die das
Selbstverständnis des
evangelischen Entwicklungsdienstes im Jahre 1973 mit einer Denkschrift
entscheidend
prägten (Grohs 1973b). Später wurde Grohs
auch Mitglied des Zentralausschusses und der
Entwicklungskommission des
Ökumenischen Rates der Kirchen. Schließlich war
Grohs auch lange Jahre
Vorsitzender des wissenschaftlichen Kuratoriums der
Forschungsstätte der
Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg, in dessen
Rahmen er
bedeutende wissenschaftspolitische Akzente im Rahmen der EKD setzen
konnte. Er
wurde zu einem regelmäßigen Autor des
„Überblick“, der vom Evangelischen
Entwicklungsdienst (EED) und Brot für die Welt herausgegebenen
führenden
deutschsprachigen Zeitschrift für Fragen der
Entwicklungszusammenarbeit und der
internationalen Politik.[4]
Grohs
gehörte zum informellen „Freundeskreis“
des „Überblick“, und stand auch immer
auf der Einladungsliste, wenn es was zu feiern gab – sei es
zum fünfundzwanzigjährigen
Jubiläum der Zeitschrift 1989 in Berlin oder wenn Mitglieder
des
Freundeskreises zu Segeltörns in die niederländischen
Gewässer oder die Ostsee
aufbrachen. Im Jahre 1975 folgte Grohs
einem Ruf in das eher
beschauliche Mainz auf einen neugegründeten Lehrstuhl
für Kultur und
Gesellschaft Afrikas. Ernst Wilhelm Müller war dort dabei, das
ehemalige
Ein-Professoren-Institut für Ethnologie in ein
interdisziplinäres Institut für
Afrikawissenschaften umzubauen, in dem die Ethnologie gleichsam die
Leitwissenschaft
darstellen sollte, ergänzt durch Abteilungen für
Sprache, Soziologie, Literatur
und Musik. Grohs’ Lehrstuhl war der für Soziologie
Afrikas, durfte sich aber
wegen des Widerstands des Instituts für Soziologie nicht so
nennen (Müller
2006). Für Grohs hatte das den Nachteil, daß er in
Mainz insgesamt nur wenige
Studierende und Doktoranden zum Abschluß führen
konnte; der Vorteil bestand
darin, daß er dadurch sehr viel Zeit für andere
Aktivitäten hatte. Seine Assistenten
in Mainz waren Volkhard Hundsdörfer (später Leiter
mehrerer großer
Entwicklungsprojekte im südlichen Afrika und
Fachhochschulprofessor in Hamburg,
verstorben am 7. Dezember 2007), Godehard Czernik (verstorben am 1.
Januar 2009)
und Dieter Neubert (heute Professor für Entwicklungssoziologie
in Bayreuth). Schaut man sich ihre
Lebensgeschichten an, so waren Müller
und Grohs wohl sehr unterschiedliche Charaktere und wissenschaftliche
Persönlichkeiten, doch teilten sie sowohl die Auffassung von
der Notwendigkeit
der Interdisziplinarität in der Afrikaforschung als auch einen
ausgeprägten
Anti-Rassismus. Mit seiner in Deutschland einzigartigen Verbindung von
Ethnologie und Soziologie, von Sprach-, Literatur- und
Musikwissenschaften sowie
mit seinem ausgeprägten Interesse am modernen Afrika war das
von Müller
organisierte Institut Grohs gewissermaßen auf den Leib
geschneidert. Mit Grohs’ Ankunft
etablierte sich nicht nur die Soziologie
am Institut, sondern auch die von Müller geplante
afrikabezogene Literaturwissenschaft,
für die Grohs seit seiner Habilitationsschrift ein Faible
hatte. Es gelang ihm,
im Rahmen seiner Berufungsverhandlungen für das Institut die
Bibliothek
„neo-afrikanischer“ Literatur des kurz zuvor
verstorbenen Janheinz Jahn
anzukaufen und für die Betreuung dieser Bibliothek eine
Mitarbeiterstelle
einzurichten, die mit Ulla Schild, einer Literaturwissenschaftlerin und
ehemaligen Lebensgefährtin von Jahn, besetzt wurde. Mit ihr
organisierte Grohs
in den nächsten zwölf Jahren die
regelmäßig stattfindenden
Janheinz-Jahn-Symposien. Er führte auch – im
Zusammenhang mit seinem
politischen Engagement – das lusophone Afrika in das
Themenspektrum ein, zu dem
am Institut geforscht und gelehrt wurde. Zu Portugal und dem lusophonen
Afrika führte
Grohs mit Kollegen mehrere Forschungsprojekte durch, darunter
„Kulturimperialismus
und kulturelle Emanzipation. Untersuchung zu den Kulturbeziehungen
zwischen
Portugal und Angola“ sowie „State and Church in
Angola“ (Brandstetter und Lentz
2006: 325f.). In dieser Zeit tagte der von Grohs gemeinsam mit dem
Soziologen
Franz-Wilhelm Heimer gegründete und geleitete Arbeitskreis
Portugiesischsprachiges Afrika (APSA) mehrmals in Mainz.[5] Vor allem wurden Lehre und
Forschung am Institut während
Grohs’ Zeit (1975–1994) zunehmend politischer.
Gerhard Grohs war von der
politischen Verantwortung des Wissenschaftlers überzeugt und
vermittelte dies
auch erfolgreich seinen Studierenden. Das Mainzer Institut wurde zu
einem Ort
vielfältiger afrikapolitischer und Anti-Apartheid-Initiativen,
etwa einer Ausstellung
im Rathaus zur „Praxis der Apartheid in
Südafrika“, einem parallel erschienenen
„Lesebuch zur Apartheid“ (1987 von Ute Luig und
Volkhard Hundsdörfer herausgegeben)
und einem von Mitarbeitern und Studierenden getragenen
„Koordinationsausschuß
für einen Wissenschaftsboykott Südafrikas“
anläßlich des Weltkongresses der
Vor- und Frühgeschichte im Jahre 1987 in Mainz. Mit dem
Professor für Pädagogik
und Mainzer Kollegen Franz Hamburger schrieb Grohs Anfang der 1990er
Jahre ein
Memorandum zur Einwanderungspolitik, in dem er Einwanderungsquoten
für
Deutschland forderte. Das Mainzer Institut war eine
der Plattformen für Grohs’
politische Tätigkeit und profitierte von seinem bereits
länger andauernden
politischen Engagement. Weitere Kontexte waren, wie bereits
erwähnt, die
evangelische Kirche und zudem die Vereinigung für
Afrikawissenschaftler in
Deutschland (VAD). Die VAD – später umbenannt in
Vereinigung für Afrikawissenschaften
in Deutschland – war von jüngeren
Afrikawissenschaftlern 1969 als Gegenentwurf
zu der von vielen als zu honorig und konservativ empfundenen Deutschen
Morgenländischen Gesellschaft, aber auch zu der als politisch
reaktionär
geltenden Deutschen Afrika-Gesellschaft (DAG) gegründet worden
(Brahm 2009).
Grohs, der im Frühjahr 1969 noch in Dar-es-Salam war,
gehörte nicht zu den
Gründungsmitgliedern der VAD, muß der Vereinigung
aber unmittelbar darauf
beigetreten sein, denn anscheinend gehörte er dem ersten
Vorstand an. Von 1991
bis 1993 war er ihr Vorsitzender. In den folgenden zwanzig Jahren
gehörte er zu
den aktivsten, vor allem auch politisch aktivsten Mitgliedern
– also in den
Jahren, in denen die VAD ihre eigene Rolle vor allem politisch
definierte und
sich nicht mit der Ausrichtung einer Tagung alle zwei Jahre
begnügte. Die vom
Auswärtigen Amt gegründete und von dem als Freund der
Apartheid geltenden Eugen
Gerstenmeier geführte DAG wurde von Mitgliedern der VAD
– darunter neben Grohs
der Afrika-Politologe Franz Anprenger und der Historiker Immanuel Geiss – zielgerichtet
unterwandert und im Jahre 1971 sozusagen übernommen.
Mitglieder des
neugewählten Präsidiums waren neben Gerhard Grohs der
Politologe Franz
Ansprenger, der Soziologe Lars Clausen (der sich 1967 in
Münster mit einer
empirischen Untersuchung zweier sambischer Großbetriebe
für Soziologie
habilitiert hatte und der den Vorsitz übernahm), der
Historiker Immanuel Geiß,
der Schriftsteller Janheinz Jahn sowie der (später als in
einer
nationalsozialistischen Tradition stehend kritisierte) physische
Anthropologe
und Bevölkerungswissenschaftler Hans Wilhelm Jürgens.[6] Nicht zuletzt auf Initiative
von Gerhard Grohs engagierte
sich die VAD zunehmend im Kampf gegen die südafrikanische
Apartheid. Im Jahre 1978
veröffentlichte der Afrika-Historiker Helmut Bley im Auftrag
der VAD ein Buch
zu den Versäumnissen und Zwängen deutscher
Afrikapolitik, mit einem siebzigseitigen
Beitrag von Grohs zur Unterstützung der portugiesischen
Afrikapolitik durch die
Bundesregierung (Grohs 1978). Im Jahre 1980 gründete sich in
der VAD eine
„Arbeitsgruppe Afrikapolitik“ (später
„Politischer Ausschuß“ genannt), die von
dem Historiker Helmut Bley und von Gerhard Grohs geleitet wurde. Diese
Arbeitsgruppe betrieb in den Folgejahren mehrere politische
Initiativen. Im
Winter 1981 initiierte sie eine, schließlich von 32 Personen
unterzeichnete
„Erklärung deutscher Afrikawissenschaftler zur Krise
der westlichen
Südafrikapolitik nach dem Scheitern der Genfer
Namibia-Konferenz“. In dieser
Erklärung wurde die deutsche Bundesregierung zu mehr Druck
gegenüber Südafrika
aufgerufen. Im Jahre 1986 veröffentlichte der Politische
Ausschuß der VAD unter
Mitarbeit von Grohs eine fast sechzigseitige Denkschrift mit dem Titel
„Südafrika
zum Frieden zwingen“.[7] Grohs beteiligte sich auch
intensiv an der wissenschaftlichen
Arbeit der VAD, die in den zwei Jahrzehnten nach ihrer
Gründung wesentlich auch
von „seinen“ Themen geprägt wurde. Die
erste Jahrestagung des neugegründeten
Verbandes behandelte 1970 mit den „programmatischen Schriften
zur Afrikanität“
eines seiner Kernthemen (Brahm 2009: 8). Grohs war der Herausgeber des
Tagungsbandes
(1972a), der unter dem Titel „Theoretische Probleme des
Sozialismus in Afrika.
Négritude und Arusha-Deklaration“ erschien. Im
Jahre 1982 wurde die Tagung in
Mainz zu einem anderen „seiner“ Themen
durchgeführt, nämlich der
„Ausdifferenzierung der afrikanischen Eliten 20 Jahre nach
Erreichung der
Unabhängigkeit“ (so der Titel des von Eva-Maria
Bruchhaus herausgegebenen
Tagungsbandes (Bruchhaus 1983). Im Jahre 1993 fand die Jahrestagung
wiederum in
Mainz statt, diesmal unter dem Titel „Afrika hilft sich
selbst. Prozesse und
Institutionen der Selbstorganisation“ – auch dieses
Thema, das auf afrikanische
agency anspielte, hatte Grohs
seit
Beginn seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Afrika am
Herzen
gelegen. Den Eröffnungsvortrag hielt der Schweizer Soziologe
und Aktivist Jean
Ziegler, der forderte, Afrika müsse sich vom Weltmarkt
abkoppeln, um zu
überleben – eine These, der Gerhard Grohs
widersprach, da sie in dem Sinne
verstanden werden könne, daß Afrika sich selbst
überlassen werde. Afrikanischer Sozialismus,
afrikanische Eliten, kulturelle
Abhängigkeiten, der Kampf gegen die südafrikanische
Apartheit, die Auseinandersetzung
mit afrikanischen Literaturen und die Überzeugung von der
Notwendigkeit
interdisziplinärer Ansätze – das waren die
Themen, mit denen Gerhard Grohs das
Institut für Ethnologie und Afrikastudien in den zwei
Jahrzehnten nach seiner
Berufung im Jahre 1975 prägte. „Der
wissenschaftliche Grundkonsens am Institut
war […]
ein
politischer, ein emanzipatorischer“, faßt Gerhard
Hauck (2006: 263) dies zusammen.
Grohs engagierte sich auch in der neuen Lands- und
Universitätspartnerschaft
mit Ruanda mit mehreren Forschungsprojekten und Tagungen. Zunehmend
interessierte
er sich in diesem Zusammenhang für das Thema der
Menschenrechte. Einen Ruf in
das noch beschaulichere Bayreuth lehnte er ab, einen Ruf auf eine
einjährige
Theodor-Heuß-Gastprofessur an der New School for Social
Research in New York
nahm er an. „Die
Afrikaforschung“, schreibt Grohs 1964 in einem seiner
Aufsätze über Frantz Fanon, ist in dreifacher Hinsicht
parzelliert: einmal durch die
Fachgrenzen der einzelnen Disziplinen, zum anderen durch die
verschiedenen
Methoden, die von den Forschern angewandt werden, wobei der
über die
Fachgrenzen hinausgehende Unterschied der
„Theoretiker“ und „Empiriker“
sich
besonders stark bemerkbar macht, und schließlich durch die
Sprachgrenze, die
nicht nur die französisch sprechenden Afrikaner von den
englisch sprechenden
trennt, sondern vielfach auch die französischen Forscher von
den englischen und
amerikanischen (Grohs 1964b: 457). Grohs
erkannte in der Überwindung
dieser Grenzen offensichtlich eine Herausforderung, der er sich in
seinem
Lebenswerk erfolgreich stellte. Er war einer der profiliertesten
Afrikawissenschaftler
seiner Zeit, an der Schnittstelle von Sozial- und Kulturwissenschaften
und mit
einer frühen internationalen Präsenz, die sich nicht
nur auf Europa und die USA
beschränkte, sondern auch Afrika einschloß
– lange bevor „Forschung auf
Augenhöhe“ zu einem Schlagwort wurde. Als
ausgebildeter Jurist hegte er keine
grundsätzlichen Bedenken hinsichtlich gesellschaftspolitischer
Intervention,
was ihn von vielen Ethnologen seiner Zeit unterschied. Er
überschritt daher
souverän nicht nur die Grenzen innerhalb der Wissenschaft,
sondern auch
diejenigen zwischen Wissenschaft und politischer Praxis, zwischen
Glauben und
Handeln. Das machte ihn – der nie viel Aufhebens um seine
Person machte – zu
einem bemerkenswert unabhängigen Geist. * Von Gerhard Grohs liegen eine autobiographische Skizze (1998), ein Beitrag zur frühen Beschäftigung mit afrikanischer Literatur in Mainz (2005) sowie ein kurzer Text über den von ihm inspirierten Kampf gegen die südafrikanische Apartheid am Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (2006) vor, die ich für diese Kurzbiographie& herangezogen habe. Die drei Festschriften (Neubert 1991, Neubert und Thimm 1994, Brandstetter und Neubert 2002) sind biographisch wenig ergiebig. Ich danke seinen Kindern Florian und Henrike für weitere biographische Auskünfte. Ein tabellarischer Lebenslauf und ein vollständiges Schriftenverzeichnis finden sich auf der Homepage des Instituts für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (http://www.ifeas.uni-mainz.de/Grohs/Grohsbiographie.html; http://www.ifeas.uni-mainz.de/Grohs/Grohsschriften.html). Dieser Nachruf nimmt zum Teil Passagen aus der Laudatio auf, die ich 1999 zum 70. Geburtstag von Gerhard Grohs gehalten habe (Bierschenk 2006). [1] Elisabeth Grohs (1931–1996) war das
zweite Kind des Bischofsreuther Oberförster Beringer
(später Oberförster in
Marquardstein, Kr. Traunstein). Ihre jüdische Mutter war im
Kindbett gestorben.
Ihr älterer Bruder Christoph Beringer studierte Landwirtschaft
in den USA, war
dann bei der FAO in Rom tätig und ist als Verfasser von
agrarökonomischen
Studien zur Dritten Welt in Erscheinung getreten. Die jüngere
Halbschwester
Irene Carrico wohnt in Seattle, USA, wohin sie als Au
Pair-Mädchen ausgewandert
war. [2] Ursprünglich als „Zentralstelle
für
Verwaltungshilfe“ konzipiert, nannte sich die DSE
später in Deutsche Stiftung
für Internationale Entwicklung um, wurde 2002 mit der
Carl-Duisberg-Gesellschaft (CDG) zur „Weiterbildung und
Entwicklung
GmbH/InWEnt“ zusammengelegt und ging 2011 in der Gesellschaft
für Internationale
Zusammenarbeit (GIZ) auf. [3] Im Jahre 1988 wurde die „Sektion
Entwicklungssoziologie“ in „Sektion
Entwicklungssoziologie und
Sozialanthropologie“ umbenannt.
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