Die orale Rechtskultur des vormodernen
christlichen Äthiopien vertraute dem Gedächtnis bestimmter Personengruppen
die Bewahrung des Gesetzes an. Auf der Ebene der regionalen Unionen freier
Gemeinden waren dies die Ältesten bestimmter Dörfer. Dabei gab
es eine Aufgabenteilung zwischen der Erinnerung an den Gesetzestext (wag)
und der Erinnerung an Präzedenzfälle und Entscheidungen (tarik
= Geschichte). Trägt schon diese Aufteilung Elemente der Rechtsfortbildung
nach den Erfordernissen der Zeit in sich, so werden diese verstärkt
durch den bewußten Verzicht auf (ausführliche) schriftliche
Form. Diese wurde oft erst von Kolonialherren erzwungen und bedeutete das
Ende dieser spezifischen Rechtskultur.
In der Tat steht dahinter die – gleich auf welchen Wegen gewonnene – richtige Erkenntnis, daß den wechselnden Verhältnissen der menschlichen Gemeinschaft nicht der starre Buchstabe, sondern nur das selektive, elastische menschliche Gedächtnis gerecht werden kann.
In der Sphäre des königlichen Rechts tritt die Schriftlichkeit subsidiär schon früher und in eigener Entwicklung auf. Ein besonderer Fall solch früher Verschriftung des Rechts im Mittelalter soll vor dem Hintergrund der sonst allgemein herrschenden oralen Rechtskultur dargelegt und bewertet werden.
Prof. Dr. Manfred Kropp ist Professor
für Islamwissenschaft und Semitistik am Seminar für Orientkunde
der Johannes Gutenberg Universität Mainz.
Nächster Vortrag in dieser Reihe:
Montag, 17. Mai 1999, 18.15 Uhr, Hörsaal
N 3 (Muschel)
PD Dr. Gabriele Lucius-Hoene (Freiburg
i.Br.)
Erinnern und Vergessen bei Hirnschäden
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