Wir neigen dazu, das lange 19. Jahrhundert als ein beneidenswert ruhiges zu betrachten. Dies entsprach aber weder der Erfahrung noch der Auffassung der Zeitgenossen, die ihre Gegenwart als Zeit des Umbruchs erlebten. Die Erfahrung der einbrechenden Moderne bestimmte auch die Einstellung zum Judentum. Gerade unter den Kritikern der Moderne und den Gegnern des Kapitalismus fanden sich viele, die sich entschieden gegen die jüdische Präsenz im modernen Wirtschaftsleben wandten. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß der rapide Aufstieg west- und mitteleuropäischer Juden im 19. Jahrhundert ein einmaliges Phänomen in der europäischen Geschichte darstellte: der Weg einer selbstbewußten Minderheit, die von der abgegrenzten Peripherie, dem Ghetto, in ein oder zwei Generationen einen prominenten, wenn auch stets umstrittenen und begrenzten Platz im Zentrum des Lebens erreicht hatte. Die Gleichsetzung der Juden mit der Moderne bildete eine weitverbreitete Komponente des neuen Antisemitismus – das Wort selbst wurde in den 70er Jahren geprägt und fand als Schlagwort rasch Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch.
Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Fritz Stern, geb. 1926 in Breslau, 1938 in die USA ausgewandert. Studium und 1953 Promotion im Fach Geschichte an der Columbia University of New York. 1953 bis 1967 dort Professor of History, 1967 bis 1992 Seth Low Professor of History, 1980 bis 1983 Provost, 1992 bis 1996 University Professor, seit 1997 Emeritus der Columbia University. Gastprofessuren an zahlreichen Universitäten und wissenschaftlichen Einrichtungen in den USA und Europa. Mitglied in verschiedenen Kuratorien wissenschaftsfördernder Institutionen und in Beiräten wissenschaftlicher Zeitschriften. Mitglied mehrerer Akademien. Zahlreiche Ehrungen, u.a. Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland und Mitglied des Ordens Pour le Mérite. Ehrendoktor der Oxford University, der New School for Social Research und der Columbia University in New York. Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1999.
Arbeitsgebiete:
Politische Kultur Europas nach 1789 –
Geschichte Deutschlands nach 1740 – Geschichte des Ersten Weltkriegs –
Antibürgerliches Ressentiment im europäischen Denken des 19.
Jahrhunderts – Kulturelle Ursprünge des Faschismus – Imperialismus
nach 1870 – Historiographie – Burckhardt – Nietzsche – Max Weber – Thomas
Mann.
Veröffentlichungen des Referenten (Auswahl):
Kulturpessimismus als politische Gefahr (1963) – Das Scheitern illiberaler Politik. Studien zur politischen Kultur Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert (1974) – Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder (1978) – Der Traum vom Frieden und die Versuchung der Macht (1988) – Verspielte Größe. Essays zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts (1996). – Zahlreiche Aufsätze, insbesondere zur deutschen Geschichte und zur politischen Kultur Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert.
Nächster Vortrag in dieser Reihe:
Montag, 7. Juni 1999, 18.15 Uhr, Atrium
maximum (Alte Mensa)
Prof. Dr. Klaus Marx (Mainz), Uwe Rasch
(Bremen)
Erinnern, Vergessen, Speichern, Löschen.
Musik in der Zeit des digitalen Gedächtnisses
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