Im Rahmen des Themenschwerpunktes
Nibelungen – Geschichte und Geschichten
lädt das Studium generale zu folgender Veranstaltung ein:
Dr. Günter Eifler (Mainz)
»der Nibelunge nôt«
Authentische Dichtung aus Sagenstoff
Mittwoch, 7. Februar 2001, 17.15 Uhr
Hörsaal N 3 (Muschel)
Die Autoren volkssprachiger mittelalterlicher Epik
erfinden die Inhalte ihrer Dichtungen nicht selbst. Sie behandeln Stoffe,
die durch Tradition beglaubigt sind.
Eines der wesentlichen hier in Betracht zu ziehenden
Stoffgebiete sind mündlich überlieferte Sagen, die sich auf historische
Personen und Ereignisse der germanischen Völkerwanderungszeit beziehen.
Von diesen Sagen haben wir keine unmittelbare Kenntnis. Alles, was wir
davon wissen, ist erschlossen aus Dichtungen, die zu verschiedenen Zeiten
an verschiedenen Orten aufs Pergament gekommen sind. Das jeweilige Verhältnis
dieser Dichtungen zu ihrer Sagenquelle und damit auch zu den durch die
Sage vermittelten historischen Horizonten ist demzufolge kaum zuverlässig
zu beurteilen. Dennoch hat genau dieses Problem namentlich die Forschungen
zur Heldenepik beherrscht. Es wird heute erneut als Schlüssel zur
literarischen Bewertung des Nibelungenliedes aufgegriffen. Nach der Meinung
dieser Forschungsrichtung machen nämlich Heterogenität und Widersprüch-lichkeit
der tatsächlichen Textüber-lieferung den Rückgriff auf die
nur unzulänglich integrierten Sagenelemente zwingend, wenn überhaupt
so etwas wie ein Verständnis des Nibelungenlieds angestrebt werden
soll.
Der Vortrag setzt sich mit dieser Forschungsposition
auseinander: Fehlt dem Nibelungenlied wirklich eine konsistente, vom Rezipienten
ohne Zuhilfenahme weiterer Quellen nachvollziehbare Handlungs- und Konfliktgestaltung?
– Sind die Figuren der Dichtung wirklich so konturlos, daß ihr Verhalten,
ihre Entscheidungen und ihr Handeln stets nur als Reflex auf die vom Sagenstoff
vorgegebenen Situationen begriffen werden können, nicht jedoch als
Ausdruck einer personalen Kontinuität? – Waren die objektiven Möglichkeiten
wie auch die subjektive Fähigkeit des Dichters, das traditionelle
Stoffmaterial buchepisch zu integrieren, wirklich so beschränkt, daß
er dem nacherzählten Sagenstoff keine deutende Verständnisperspektive,
keinen Sinnzusammenhang beizulegen vermochte, und ist folglich das Bemühen,
historisch authentischen Sinn des Werkes zu erkennen, dazu verurteilt,
Sinn zu unterstellen, wo in Wirklichkeit keiner zu finden ist? – Wäre
diese Behauptung Joachim Heinzles zutreffend, dann dürften wir dem
Nibelungenlied keine erkennbare Wirkungsabsicht zutrauen; damit wäre
dann aber auch zugleich die Frage, warum dieser Sagenstoff um die Wende
vom 12. zum 13. Jahrhundert und in Nachbarschaft zu den großen höfischen
Romanen eines Wolfram von Eschenbach, eines Gottfried von Straßburg
wiedererzählt wurde und warum schon die Zeitgenossen eine auffällige
Auseinandersetzung mit dieser Wiedererzählung suchten, gegenstandslos.
Und nicht zuletzt müßten auch wir heute uns fragen, weshalb
man sich immer noch mit dem Nibelungenlied beschäftigen soll, wenn
es sich nicht um eine authentische, über den Horizont ihrer Entstehungszeit
hinaus bedeutende Dichtung handelte.
Dr. Günter Eifler, geb. 1929 in Köln; 1951–1954 Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie in Mainz. Promotion 1963 mit einer Arbeit über Die ethischen Anschauungen in Freidanks ‚Bescheidenheit‘. 1964–1978 Wiss. Assistent und Assistenzprofessor am Deutschen Institut der Univ. Mainz. 1978–1994 Mitarbeiter und 1994–1996 Leiter des Mainzer Studium generale. Publikationen über mittelhochdeutsche Epik, Lyrik und didaktische Dichtung.
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