MAINZER UNIVERSITÄTSGESPRÄCHE

Im Rahmen des Themenschwerpunktes

Nibelungen – Geschichte und Geschichten

lädt das Studium generale zu folgender Veranstaltung ein:
 

Prof. Dr. Joachim Heinzle (Marburg)/ Prof. Dr. Arbogast Schmitt (Marburg)
Das Nibelungenlied und die Ilias
Zwei Kurzvorträge mit anschließendem Streitgespräch

Mittwoch, 13. Dezember 2000, 17.15 Uhr
Hörsaal N 3 (Muschel)

Die Beziehung auf die Ilias zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Rezeption des Nibelungenlieds seit seiner Wiederentdeckung im 18. Jahrhundert. Es war die Klassifizierung als »Deutsche Ilias«, die die Inanspruchnahme des Nibelungen-lieds als Nationalepos der Deutschen entscheidend befördert hat, und es war das Vorbild der Homer-Forschung (Friedrich August Wolf), das die zünftige philologische Analyse des Werks in Gang setzte. In der heutigen Forschung spielt der direkte Vergleich der beiden Epen kaum noch eine Rolle, doch steht außer Frage, daß sie Gemeinsamkeiten der gattungstypischen Prägung wie der individuellen Gestaltung aufweisen, die einen Vergleich sinnvoll machen. Beide Epen haben eine grundlegende Bedeutung für das Bewußtsein einer kulturellen oder nationalen Einheit; beide gestalten in poetischer Weise eine große geschichtliche Vergangenheit; in beiden gibt es gemeinsame Züge der Handlungs- und Konfliktgestaltung (hier wie dort besteht ein Mißverhältnis zwischen dem König, der die größte Macht besitzt – Agamemnon, Gunther – und einem für die Erhaltung dieser Macht wichtigen Helden, der die größte Tapferkeit aufweist – Achill, Siegfried –, und hier wie dort ist ein Ehrkonflikt, der sich aus diesem Mißverhältnis entwickelt, die Ursache für den tragischen Handlungsverlauf). Was den methodischen Zugang betrifft, so bestimmen die kontroversen Positionen der durch Wolf ausgelösten Homer-Debatte (‚Unitarier' vs. ‚Analytiker') strukturell noch immer die Nibelungenforschung, doch gibt es so gut wie keinen Kontakt zur aktuellen Homer-Forschung, obwohl es diese weithin mit denselben Problemen zu tun hat: den Fragen nach einer literarisch einheitlichen Handlungsgestaltung, einer allgemeinen Sinndeutung, nach dem Verhältnis von Geschichte und Dichtung, dem Verhältnis von Charakter und Handlung, nach den Wirkungsabsichten (gibt es eine moralische Deutung oder ist die Darstellung ganz frei von moralischen Bewertungen?), nach den eingesetzten ästhetischen Mitteln und deren Bedeutung für die Gesamtkonzeption, usw. Nach Einführungsreferaten, in denen zunächst der gegenwärtige Forschungsstand zur Deutung des Nibelungenlieds, dann der Ilias vorgestellt werden sollen, diskutieren über die genannten und weitere Fragen der Mediävist Joachim Heinzle und der Altphilologe Arbogast Schmitt zunächst miteinander, später soll die Diskussion allgemein geführt werden.

Professor Dr. Joachim Heinzle ist Professor für Deutsche und Germanische Philologie in Marburg. Sein Forschungsgebiet ist die deutsche Literatur des hohen und späten Mittelalters. Arbeiten zum Vortragsthema: u.a. Das Nibelungenlied. Eine Einführung, München 1987, Neuausgabe Frankfurt a. M. 1994, 2. Aufl. 1996. – Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffes im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1991 (hg. zusammen mit Anneliese Waldschmidt). – Gnade für Hagen? Die epische Struktur des Nibelungenliedes und das Dilemma der Interpreten, in: Nibelungenlied und Klage, Heidelberg 1987, 257–276. – Konstanten der Nibelungenrezeption in Mittelalter und Neuzeit, in: 3. Pöchlarner Heldenliedgespräch, Wien 1995, 81–107. – Zur Funktionsanalyse heroischer Überlieferung: Das Beispiel Nibelungensage, in: New Methods in the Research of Epic, Tübingen 1998, 201–221. – Zum literarischen Status des Nibelungenliedes, in: Nibelungenlied und Klage, München 1998, 49–65. – Mißerfolg oder Vulgata? Zur Bedeutung der *C-Version in der Überlieferung des ‚Nibelungenlieds?, in: Blütezeit, Tübingen 2000, 207–220.

Professor Dr. Arbogast Schmitt war von 1982–1991 in Mainz und ist jetzt Professor für griechische Literatur und Philosophie in Marburg. Seine Haupt-forschungsgebiete sind das griechische Epos, die attische Tragödie, Platon und Aristoteles sowie deren Wirkungsgeschichte. Eigene Arbeiten zum Vortrags-thema: Selbständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer. Hermeneutische Untersuchungen zur Psychologie Homers, Stuttgart 1990 (Abh. der Akad. Mainz). – Zur Darstellung menschlichen Handelns in griechischer Literatur und Philosophie, In: O. W. Gabriel (Hg), Der demokratische Verfassungs-staat, Festschrift Hans Buchheim (Mainz), München 1992, 3–16. – Der Einzelne und die Gemeinschaft in der Dichtung Homers und in der Staatstheorie bei Platon und Aristoteles. Zur Ableitung der Staatstheorie aus der Psychologie, Stuttgart 2000 (Sitzungsberichte der Wissenschaftl. Gesellschaft Frankfurt 38,2). – Die Ilias, – ein Meisterwerk der Literatur?, in: Reinhardt Brandt (Hg), Meisterwerke der Literatur, Ditzingen, Reclam 2000.

Nächste Veranstaltung in dieser Reihe:

Prof. Dr. Werner Breig (Erlangen)
Die musikdramatische Konzeption von Wagners »Ring des Nibelungen«
Mittwoch, 10. Januar 2001, 17.15 Uhr, N 1 (Muschel)
 
 


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