MAINZER UNIVERSITÄTSGESPRÄCHE

Im Rahmen des Themenschwerpunktes
Zeit und Zeitlichkeit
lädt das Studium generale zu folgender Veranstaltung ein:
 

Prof. Dr. Jan Sokol (Prag)
Rhythmus und Zeitlichkeit
Mittwoch, 26. Januar 2000, 17.30 Uhr
Hörsaal P1 (Philosophicum)
(Änderung des Hörsaals und späterer Beginn wegen Fernsehaufnahme)

Über die Zeit ist zwar täglich die Rede, trotzdem bleibt sie für Philosophen und Wissenschaftler seit 25 Jahrhunderten ein Rätsel. Jedenfalls steht heute fest, daß wir über die Zeit in zweifachem Sinne sprechen: Die eine ist die naturwissenschaftliche Koordinate, die andere die "Zeit mit der Gegenwart" (Einstein), wo Bezeichnungen wie "jetzt", "gestern" usw. einen Sinn haben und wo man auch sagen kann, man habe "keine Zeit". Nun fragt sich, warum sie beide "Zeit" heißen – was ist ihnen gemeinsam, oder haben sie wenigstens eine gemeinsame Wurzel?

Sowohl in der philosophischen wie auch naturwissenschaftlichen Tradition herrscht die Meinung, die Zeit sei etwas, was glatt und homogen verläuft, fließt. Im Vortrag wird die Aufmerksamkeit auf das allgegenwärtige, aber bisher in diesem Zusammenhang vernachlässigte Phänomen Rhythmus gelenkt. Nur Rhythmen, d.h. regelmäßig wiederkehrende Zeitgestalten ermöglichen das Zeitmessen, obwohl hier zwischen den harmonischen und relaxierenden Rhythmen unterschieden werden soll: die letzten sind für das Lebendige typisch. Nun sind bestimmte Rhythmen auch noch für den Menschen "ansteckend", was beim Tanz oder Marsch fühlbar ist, – wahrscheinlich deshalb, weil sie an die (relaxierenden) Rhythmen unseres Körpers anknüpfen (Herzschlag, Atem, Gang).

In rhythmischen Erlebnissen entsteht ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, ein Drang zur Synchronisierung usw., die für das Bewußtsein meist unterschwellig bleiben. Die Erfahrung der Disco-Musik wird erörtert, und es wird gezeigt, daß man im starken Rhythmus irgendwie "aus der Zeit" herausfällt, die sich nun nicht als etwas Fließendes, sondern als etwas Wiederkehrendes und Bleibendes präsentiert. Endlich wird die These vertreten, die Rhythmen können ein gemeinsamer Grund sowohl der naturwissenschaftlichen, d.h. meßbaren und gemeinsamen Zeit, wie auch der eigenen, erlebten "Jetzt-Zeit" der Lebenswelt (Husserl), des menschlichen Lebens und seiner Sorge (Heidegger) sein.

Prof. Jan Sokol, Ph.D., 1936 in Prag geboren, Lehre als Goldschmied und Uhrmacher, Abitur und Fernstudium der Mathematik, später der Philosophie und Anthropologie. 1964–90 leitete er in Prag die Software-Entwicklung, 1990–92 Vizepräsident des Parlaments der CSFR, seit 1991 lehrt er Philosophie an der Karls-Universität Prag. Seit 1997 Berater, 1998 Bildungsminister der Tschechischen Republik (CR), Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Räte und der tschechischen UNESCO-Komission. Mitunterzeichner des Menschenrechtsmanifestes Charta 77. – Vorlesungen: Einführung in die Philosophie; über die Zeit, über "Macht, Geld und Recht"; zur Phänomenologie der Religion.

Veröffentlichungen des Referenten:

Eckhart-Lesebuch (1993), Rhythmus und Zeit (1996), Kleine Philosophie des Menschen (1994, 1998), Der Mensch als Person (im Druck). – Zahlreiche Übersetzungen aus dem Französischen, Deutschen und Englischen, Mitarbeit an der neuen ökumenischen Bibelübersetzung (1963–79).

Nächster Vortrag in dieser Reihe:

Prof. Dr. Andreas Roth (Mainz):
Die Zeitlichkeit des Rechts – Überlegungen anhand des 100. Geburtstags des BGB
Mittwoch, 9. Februar 2000, 17.15 Uhr, N3 (Muschel)


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