Forschung & Lehre
Für Ernst W. Müller ist die Ethnologie eine komparative Geisteswissenschaft par excellence. Aus diesem Verständnis des Faches resultiert auch sein konsequent interdisziplinärer Ansatz, den er im Mainzer Institut für Ethnologie und Afrikastudien in exemplarer Weise umgesetzt hat, als er von 1969 bis 1986 die Professur für Allgemeine Ethnologie innehatte. Verschiedene Projekte zur Erforschung der Gesellschaften des Kongo-Beckens machen deutlich, wie diese erste Feldforschung den damals gerade noch nicht mal 30jährigen geprägt hat. Zunächst war er beteiligt an dem von Erika Sulzmann entwickelten Forschungsprojekt zu „Geschichte und Ethnographie der Stämme im inneren Becken des Zaire“. Das Forschungsziel war es, ausgehend von einer monographische Erfassung der Ekonda und der Bolia sowie einem Vergleich dieser Gruppen mit weiteren Ethnien, mögliche Kulturareale im zentralen Kongo-Becken zu ermitteln. In einem Gemeinschafsprojekt mit Erika Sulzmann, Manfred K.H. Eggert, Rosemarie. Eggert, Johannes Preuss, V. Schön, Kanimba Misago und Nkulu Ngoye wurden diese Arbeiten unter dem Titel „Ethnologische, archäologische, geographische Forschungen in Zaire“ fortgeführt und ausgedehnt. Sein schon ausgeprägtes Interesse an sozialwissenschaftlichen Fragestellungen ist von seinem Mentor Wilhelm Emil Mühlmann, der 1957 nach Mainz berufen wurde, noch weiter gefördert worden. Müller setzte die Ausrichtung Mühlmanns fort, der sich seinerzeit als einer der drei großen Theoretiker der deutschsprachigen Völkerkunde sah. Es ist nicht zuletzt Müller zu verdanken, dass die Tradition Mühlmanns in Mainz und der Ethnologie allgemein fortgesetzt wurde. Ungeachtet dessen war es Müller ein wichtiges Anliegen, die vor jener Zeit im kleinen Fach der Völkerkunde üblichen Aufspaltungen in unterschiedliche Schulen, die sich teilweise nahezu feindlich gegenüberstanden, zu überwinden. So vertrat er den Mühlmann’schen Ansatz, ohne ihn zum Dogma zu erheben. In der sozialwissenschaftliche Orientierung seines Faches machte Müller vor allem von sich reden, als er sich in seiner Habilitationsschrift gegen eine biologistische Auslegung des Begriffs Verwandtschaft aussprach. Vielmehr wollte er Verwandtschaft als Form sozialer Interaktion verstanden wissen und kritisierte damit den bis dahin in den Theorien herrschenden Substantialismus. Diese Überlegung entwickelten sich sicherlich nicht zuletzt auf Grund der Erfahrungen, die ihn überhaupt zur Ethnologie geführt haben. Das Naziregime bediente sich biologischer Argumente zur Begründung sozialer Unterschiede und schließlich zur Vernichtung der europäischen Juden. Gegen das Primat der Biologie in der Verwandtschaft postulierte Müller, dass „das entscheidende Moment in der Verwandtschaft das soziale ist, das biotische mehr der Begründung dient für die sozialen Beziehungen und als Nomenklatur“ (Müller 2001: 10). Trotz zahlreicher Beiträge auf den Spezialgebieten der Rechts- und Sozialethnologie vertrat Müller eine ausgesprochen pluralistische Wissenschaftskonzeption. Er hat niemals einen eingeschränkten Begriff der Ethnologie vertreten und suchte stets den interdisziplinären Kontakt zu anderen Fächern. Vehement hat Müller als Wissenschaftler gegen die unzulässigen Unterscheidungen zwischen Natur- und Kulturvölkern, Primitiven und Zivilisierten protestiert. Diese Vorstellung hatte in der Vergangenheit die Ethnologie bestimmt und so den Blick auf die Gemeinsamkeiten menschlicher Kultur verhindert. Obwohl er seine Forschungen in Afrika begonnen hatte, sah er sich nie nur als Afrikaspezialisten. Zwar hat er in den Jahren in Mainz verschiedene Afrikabezogene Forschungsprojekte betreut, u.a. die Forschung von Ute Luig, heute Professorin für Ethnologie an der FU Berlin, im Süden der Elfenbeinküste „Zur Geschichte der Baule: ökonomische Determinanten politischer Zentralisierungsprozesse“, doch machte sein Interessen an den Grenzen des Kontinents nicht Halt. So forschte er gemeinsam mit Paul Drechsel über „Geschlechtsreife und Legitimation zur Zeugung bei den australischen Ureinwohnern“, um herauszuarbeiten, welche Vorstellungen der Aborigines bezüglich der Rolle des Mannes als Genitor haben. Auch wollte er die Ethnologie nicht allein auf die Erforschung außereuropäischer Kulturen beschränkt sehen. Für ihn war die Ethnologie Teil einer allgemeinen Kulturwissenschaft, für die es nun an der Zeit war, die Ausgrenzung fremder Kulturen hinter sich zu lassen und sich stattdessen der Erforschung von Gemeinsamkeiten menschlicher Kulturen zu widmen, ohne dabei die jeweiligen kulturellen Besonderheiten aus den Augen zu verlieren. Ethnologie betrachtet er dabei als eine der komparative Geisteswissenschaft par excellence, nachzulesen in einem Aufsatz, erschienen 1993 in der Zeitschrift Paideuma, mit dem programmatischen Titel „Plädoyer für die komparativen Geisteswissenschaften“. So beschäftigen sich die späteren Arbeiten Müllers auf einer eher allgemeinen Ebene mit theoretischen und methodischen Fragen. Er diskutierte zum Beispiel das Verhältnis der Ethnologie zu anderen Sozial- und Geisteswissenschaften oder stellte die Frage, „wie man über kulturelle Grenzen hinweg kulturelle Phänomene erfassen und beschreiben kann“ (Müller 2001: 11). In den letzten Jahren widmete er sich mehr und mehr der besonderen Rolle von Literatur sowohl in der Gesellschaft als auch für den ethnologischen Erkenntnisgewinn. Von Anfang an ging es Müller auch immer darum, ethnologische Erkenntnisse einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. In Ausstellungen sah er dazu das ideale Medium, weshalb er sich viele Jahre für ein ethnologisches Museum in Rheinland-Pfalz stark machte, dessen Grundstock die Ethnographische Studiensammlung des Mainzer Instituts bilden sollte. Folgerichtig war er an der Konzeption und Durchführung verschiedener Ausstellungen beteiligt. „Eskimo, Tikopia und eine Theorie“, "Dagomba", „Das literarische Werk Leopold Sedar Senghors“, „Afrikanische Bilder“ und „Partnerland Ruanda“. In diese Ausstellungsvorhaben waren auch immer Studierende eingebunden.
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