Forschungen und MethodenUm die Erdschreingebiete, das herausragende Raumordnungsmerkmal der Region, aufzunehmen und zu kartieren, wurde die Siedlungsgeschichte größerer Gebiete "flächendeckend" erhoben. Dazu wurden insgesamt gut 120 Dagara-, Pwo-, Sisala- und Dyan-Siedlungen besucht (vgl. Karte des Untersuchungsgebiets) und jeweils offene bzw. teilstandardisierte Interviews mit dem Erdherren, seinem Vertreter und einigen Familienältesten geführt. Ein Teil der Siedlungen wurde mit einigem zeitlichen Abstand erneut besucht, um offengebliebene Fragen zu klären. Diese Art der Erhebung hat den Nachteil, daß sie insofern meist oberflächlich bleibt, als zunächst nur die "offizielle" Version der Siedlungsgeschichte präsentiert wird. Dieses Manko konnte jedoch zum Teil durch den Vergleich einer großen Zahl verschiedener, zumindest teilweise voneinander unabhängiger Siedlungsgeschichten in einem größeren Gebiet mit unterschiedlicher ethnischer Zusammensetzung ausgeglichen werden. Divergenzen in den Darstellungen lassen auf Konflikte schließen; andererseits bestätigten sich in einigen Fällen auch die voneinander unabhängigen "Gewinner"- und "Verlierer"-Versionen von Bodenrechtskonflikten. Insgesamt liegen über 200 Interviews in übersetzter und transkribierter Form vor. Hinzu kommen Interviews mit verschiedenen Zeitzeugen (Weiße Väter), städtischen Intellektuellen sowie Expertengespräche. Ergänzend zu dieser flächendeckenden Erhebung wurde eine Reihe von Fallstudien (vgl. Karte des Untersuchungsgebietes) durchgeführt, in denen die lokale Siedlungsgeschichte, die dörflichen Machtstrukturen und interethnischen Beziehungen sowie bodenrechtliche Konflikte tiefergehend untersucht wurden. In diesen Fallstudien kamen neben ausführlichen Interviews mit einer Vielzahl von Personen und der Dokumentation der verschiedenen, lineage- bzw. klanspezifischen Versionen der Siedlungsgeschichte auch "klassische" ethnologische Methoden der teilnehmenden Beobachtung zum Einsatz. Durch die Durchführung von Gehöftzensen, die Erhebung der lokalen "mental maps" der Siedlungen und ihrer Gemarkung, wiederholte Beobachtungen von Opferritualen, Beerdigungsfeiern und interethnischen Interaktionen z.B. auf den Märkten sowie durch zahlreiche informelle Gespräche konnten hier die Geschichtserzählungen und Interviewaussagen teils ergänzt, teils aber auch "korrigiert" werden. Ergänzt werden die mündlichen Quellen zur Siedlungsgeschichte auch durch Archivmaterialien aus der Kolonialzeit, die allerdings noch nicht abschließend ausgewertet sind. Entsprechende Dokumente aus dem französischen Überseearchiv in Aix-en-Provence sowie aus dem Archiv des CNRST in Ouagadougou liegen in Kopie in Frankfurt vor; sie sollen in der nächsten Antragsphase intensiver bearbeitet werden. Schriftliche Unterlagen - Gesetzestexte, Projektberichte, Evaluationen, Petitionen usw. - wurden auch für die Untersuchung der rezenten Siedlungsprozesse und bodenrechtlichen Konflikte im Rahmen des AVV-Projekts herangezogen und ausgewertet. Bei der Untersuchung der Vergangenheit segmentärer Gesellschaften der Voltaregion ergeben sich besondere methodische Probleme. Schriftquellen für die vorkoloniale Zeit gibt es nicht, und die historische Erinnerung reicht allenfalls vier bis fünf Generationen zurück. Die Institution des Griot ist unbekannt; es besteht nur wenig Bedürfnis, durch Geschichte zentrale politische Instanzen zu legitimieren - mit Ausnahme des lokalen Erdherrenamts. Der im Antrag propagierte quellenkritische Ansatz - mündliche Traditionen der Siedlungsgeschichte als interessenbesetztes Feld zu behandeln, das sich häufig nur vor dem Hintergrund rezenter Konflikte entschlüsseln läßt - hat sich durchweg bewährt. Dabei wurden insbesondere bestimmte immer wiederkehrende Topoi der Siedlungsgeschichte genauer untersucht - z.B. der Jäger als Siedlungsgründer, das angeblich freiwillige Verlassen der Siedlung durch die Vorbevölkerung bei Ankunft der Neusiedler, das Recht der Erstsiedler-Lineage auf das Erdherrenamt - und der Umgang mit Geschichte als Ressource in Landrechtskonflikten thematisiert. Die Interessengebundenheit der Siedlungsgeschichten und die geringe zeitliche Tiefe von einigermaßen gesicherten Genealogien machen erforderlich, zusätzliche Quellengattungen zu erschließen. Nicht-narrative Quellen können die Lücken hier teilweise füllen. Dazu gehören vor allem die rituellen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen einzelnen Siedlungen, die sich als Zeugnisse sedimentierter Siedlungsgeschichte lesen und kartographisch umsetzen lassen. Entsprechend dem "Erstkommer"-Recht, das dem Siedlungsraum eine gewisse hierarchische Ordnung verleiht, haben die ältesten Dagara-Siedlungen rituelle Rechte gegenüber den jüngeren Siedlungen, in denen sie Filialen ihres Erdschreins installiert haben; in einer solchen Filialsiedlung muß etwa im Falle eines Selbstmordes der Erdherr der älteren Siedlung um Hilfe angerufen werden. Zusammen mit der Kartierung der Migrationsrouten der verschiedenen Patriklansegmente läßt sich aus dieser räumlichen Darstellung von Beziehungen zwischen den einzelnen Siedlungen eine relative Chronologie der Besiedlung des Raumes durch die Dagara gewinnen. Zu siedlungsgeschichtlichen Erkenntnissen trägt auch die genaue Erfassung der räumlichen Dimension religiöser Netzwerke (Initiationskulte, heilige Orte, Pilgerrouten usw.) bei, wie sie das Projekt A8 untersucht hat - dessen Arbeit in enger Kooperation mit A9 erfolgte und dessen Erkenntnisse auch in den vorliegenden Bericht einfließen (vgl. auch Bericht A8). Ein weiterer Schritt zur Erschließung non-narrativer Quellen der Siedlungsgeschichte ist schließlich die Untersuchung von Kulturbaumparks. Die Zusammensetzung von Kulturbaumparks erlaubt Rückschlüsse bezüglich des relativen Alters von Siedlungen (vgl. Bericht E2 und G5), welche die Aussagen der mündlichen Traditionen zur Chronologie der Siedlungsgründungen teils bestätigen, teils aber auch in Zweifel ziehen. Insbesondere in den Departements von Ouessa, Niego, Bourra und Niabouri, östlich des Schwarzen Volta, konnte mit diesem Ansatz die aus oralen Traditionen rekonstruierte Siedlungsgeschichte erhellt und bestätigt werden. |
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