Die Dagara und ihre Nachbarn, allesamt segmentär organisierte Gruppen, haben in den letzten zwei- bis dreihundert Jahren ausgehend vom heutigen Nordwest-Ghana weite Gebiete im Südwesten Burkina Fasos besiedelt. Im Mittelpunkt unserer Untersuchungen stand diese historische und in einigen Randgebieten bis heute andauernde landwirtschaftliche Expansion der Dagara. Dabei ging es vor allem um die soziale Organisation der Mobilität, die Strategien der Landnahme und die Muster der Gemeinschaftsbildung sowie der ethnischen Grenzziehung, die mit dieser Landnahme einhergingen und -gehen. Besonders gut zu erforschen waren die Landnahmeprozesse und ihre bodenrechtlichen und identitätspolitischen Aspekte an der Siedlungsgrenze der Dagara, an der "front pionnier", wie Savonnet in seiner Studie über eine Dagara-Siedlung östlich des Volta diese landwirtschaftlichen Expansionszonen treffend benannt hat (Pina - étude d'un terroir de front pionnier en pays Dagari, Paris, 1970). Daraus leiteten sich unsere räumlichen Untersuchungsschwerpunkte ab - an der nordwestlichen und der östlichen front pionnier des Dagara-Siedlungsgebiets, wo die Ansiedlung der Dagara in Auseinandersetzung mit Pwo und Bwaba bzw. Sisala und Nouni erfolgte, die einst das Land kontrollierten (und teilweise noch kontrollieren). Gleichwohl gibt es unter den Dagara selbst kaum weniger divergierende Ansprüche auf Land, und das Verhältnis zwischen Erstsiedlern und Immigranten mußte und muß immer wieder neu ausgehandelt werden. An der front pionnier, wo eine Bevölkerungsgruppe auf eine andere trifft, kann es einerseits zur Konfrontation von Wertesystemen und zur Verhärtung von ethnischen Grenzen kommen, andererseits aber auch zu Klankonversionen und kulturelllinguistischer Assimilation. Beiden Prozessen und der Frage, in welchem historischen Kontext sie auftreten, sind wir in unseren Untersuchungen nachgegangen. Der Institution des Erdschreins, der die Kommunikation mit den spirituellen Kräften der Erde ermöglicht, kommt in diesem Zusammenhang zentrale Bedeutung zu. Erdschreine regeln nicht nur die Beziehung zum Naturraum, sondern auch zwischen den verschiedenen Siedlungsgruppen. Die Geschichte der Erdschreingebiete, deren Beziehungen untereinander oftmals umstritten sind, wirft darum auch Licht auf den Zusammenhang zwischen der Ziehung räumlicher Grenzen und der Bildung von kollektiven Identitäten. Im Zuge ihrer Expansion trafen die Dagara in der Regel auf eine Vorbevölkerung. Es galt folglich die Frage zu untersuchen, wie die Erdschreine entweder von dieser Vorbevölkerung erworben oder aber autonom installiert wurden. Außerdem sollten mögliche Veränderungen solcher Prozesse der Übernahme oder autonomen Installation von Erdschreinen während der Kolonialzeit erforscht werden, nach der Einführung eines administrativen Häuptlingstums mit neuen Konzepten von Territorialität und Ethnizität. Von der vorkolonialen und kolonialen Epoche reichte - wie im Antrag vorgesehen - der untersuchte Zeitraum bis in die jüngste Zeit hinein, in der sich die Dagara an staatlichen Umsiedlungsprogrammen beteiligt haben und sich dabei mit einer ebenfalls expansiven Bevölkerungsgruppe, den Mossi, konfrontiert sahen und sehen. Untersucht wurden hier die nachkolonialen Veränderungen der Strategien, wie Erstsiedler als Inhaber älterer Landrechte mit neuen Immigranten umgehen, und die Frage, wie heute Rechte auf Land und andere Ressourcen verhandelt werden. Eine erste gemeinsame Surveyreise der Projektmitarbeiter im März 1997
ergab, daß es für die künftigen Untersuchungen sinnvoll sein würde, die
relativ breit gefächerten Fragestellungen des ursprünglichen Antrags auf
die Siedlungsgeschichte und die aktuellen Prozesse der Landnahme zu fokussieren.
Die katholische Infrastruktur und ihr Verhältnis zu Häuptlingstümern und
Erdschreingebieten zu thematisieren, ging ebenso über den Rahmen des im
Antragszeitraum Machbaren hinaus wie eine genauere Erforschung der Organisationsformen
und der Raum und Entwicklungsvorstellungen der städtischen Eliten und
Arbeitsmigranten. Auch die Untersuchung der regionalen Herrschaftsgeschichte
trat in den Hintergrund. Dafür waren zwei Gründe maßgeblich: Zum einen
hätte eine gründliche Erforschung einen Arbeitsaufwand bedeutet, der mit
den zur Verfügung stehenden Mitarbeitern nicht zu bewältigen war; zum
anderen zeichnete sich bald ab, daß die in der Kolonialzeit geschaffenen
administrativen Häuptlingstümer zwar durch Machtmißbrauch gelegentlich
Migrationen auslösten, also durchaus von siedlungsgeschichtlicher Relevanz
waren, aber doch nur begrenzten Einfluß auf bodenrechtliche Fragen und
kollektive Identitäten hatten. Im Unterschied zur Situation bei den Dagara
in Ghana scheint den in der Kolonialzeit geschaffenen administrativen
Häuptlingstümern in Burkina Faso heute weit weniger Bedeutung zuzukommen
als den Erdschreingebieten und den damit verbundenen Institutionen. Eine
Ausnahme von dieser lokalen "Mißachtung" kolonialer und postkolonialer
Verwaltungsgrenzen bildet allerdings die internationale Grenze zwischen
Ghana und Burkina Faso entlang des elften Breitengrades, die besonders
in jüngster Zeit als bodenrechtlich relevante Ressource erkannt und genutzt
wird (zu dieser Seite). Einen weiteren Sonderfall
stellen die A.V.V. (Aménagement des Vallées des Voltas)-Dörfer dar, die
in den 1970er Jahren im Rahmen staatlicher Umsiedlungs- und Entwicklungsprojekte
geschaffen wurden und in denen verschiedene Bodenrechtsdiskurse miteinander
konkurrieren (zu dieser Seite). Den Fragen
nach der Interaktion von Erdschreingebieten und kolonialen Häuptlingstümern
soll, das sei bereits hier angemerkt, in der neuen Antragsperiode (2000-2002)
nachgegangen werden (vgl. auch den 'Ausblick'). |
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