Stand der ForschungDie historische und sozialanthropologische Forschung im Südwesten Burkina Fasos und im Nordwesten Ghanas war bisher stark Dagara- und Lobi-zentriert. Dies gilt sowohl für die Arbeiten westlicher Forscher als auch für die Beiträge einheimischer Wissenschaftler. Aufgrund seiner relativ frühen und umfassenden Christianisierung und der sich dadurch ergebenden Bildungschancen hat das Dagaraland überdurchschnittlich viele Intellektuelle hervorgebracht. In den letzten Jahren sind zahlreiche Forschungsarbeiten zur Geschichte und Kultur der Dagara von Dagara selbst erstellt worden (z.B. Somda 1984, Somé 1993, Somé 1996, Hien 1996). In der Regel handelt es sich um Magister- und Doktorarbeiten, die häufig wegen fehlender Mittel nicht auf längeren Feldforschungen in der Region basieren und daher stärker mit normativen Konzepten operieren. Die Projektmitarbeiter haben demgegenüber stärker empirisch gearbeitet und den lokal recht unterschiedlichen Kontexten mehr Beachtung geschenkt. Dabei wurde deutlich, wie sehr sich die Migrationsrouten und Siedlungsgeschichten, aber auch die aktuellen Beziehungsnetzwerke der Dagara mit denen der benachbarten Gruppen (Pwo, Dyan, Sisala, Birifor, Lobi, Bwaba) überschneiden und verschränken. Diese benachbarten Gesellschaften sind bisher kaum erforscht worden. Während über die Dagara schon an die zweihundert Aufsätze und Monographien geschrieben wurden, ist über die Sisala nur wenig (z.B. Duperray 1984) und über die Pwo und Dyan praktisch nichts bekannt. Neben wenigen unpublizierten Arbeiten von Studenten im Rahmen von Universität oder kirchlichen Bildungseinrichtungen finden sich über die letzten beiden Gruppen lediglich einige Absätze in den Werken von Labouret (1931, 1958), Hébert (1976) und Père (1988) sowie kürzere Überblicksartikel (z.B. Savonnet 1975). Hier will das Projekt dazu beitragen, diese Forschungslücke zu schließen. Die Dagara und Sisala in Nordwest-Ghana hat die Projektleiterin über viele Jahre untersucht. Deutlich wurde dabei, daß Geschichte so plural und segmentiert ist wie die untersuchten Gesellschaften selbst. Die bisherige Forschung zum Südwesten Burkina Fasos hat demgegenüber methodenkritische Fragen zur Interessenbesetztheit der Siedlungstraditionen, mit denen ja nicht zuletzt aktuelle bodenrechtliche, soziale und politische Beziehungen legitimiert werden, gar nicht gestellt. Just hier soll darum einer der Schwerpunkte des Projekts liegen. Es will nicht allein zu einer möglichst variantenreichen Rekonstruktion der Besiedlungsgeschichte beitragen, sondern auch und vor allem die Beziehung zwischen aktuellen Konflikten und geschichtlichen Topoi beleuchten. Neben der Frage der Interessenbesetztheit oraler Traditionen ergeben sich insbesondere Probleme mit der vergleichsweise geringen Tiefe der historischen Erinnerung. Zwar gibt es frühe Aufzeichnungen vom Beginn des 20. Jahrhunderts (Labouret 1931), doch reichen diese, wie auch die von den Projektmitarbeitern aufgenommenen Traditionen der Gründer-Lineages, kaum mehr als vier oder fünf Generationen zurück. Das für orale Geschichte typische "telescoping" (Weglassen von "Zwischen"Generationen) spielt gerade in segmentären Gesellschaften eine erhebliche Rolle und erschwert die Rekonstruktion der vorkolonialen Geschichte im Südwesten Burkina Fasos. Daher soll versucht werden, Instrumentarien zu entwickeln, die über narrative Quellen hinausgehen. Ein neuer Ansatz ergibt sich etwa durch die Zusammenarbeit mit Botanikern, die aus der Zusammensetzung von Kulturbaumparks in und um Siedlungen Rückschlüsse auf deren Alter ziehen können. Dadurch lassen sich Angaben der mündlichen Überlieferung zum relativen Alter verschiedener Siedlungen überprüfen. Ein weiterer Schritt in Richtung dokumentarische Quellen besteht darin, Lineagesegmente und deren jeweilige Beziehungsgeflechte in ihrer räumlichen Dimension zu visualisieren. Wo sind verwandte Gruppen lokalisiert, wo Scherzpartner und Alliierte, wo Spezialisten mit religösen Kompetenzen? Ausgehend von der räumlichen Darstellung sollen die Beziehungen zwischen verschiedenen Lineages als historische Quelle, als sedimentierte Bewegung zugänglich gemacht werden. Möglich wird dies im Rahmen einer vergleichenden Regionalforschung, die einerseits die Beziehungsnetzwerke der einzelnen Lineages möglichst umfassend dokumentiert, andererseits ihre Flexibilität und die Überschneidungen mit anderen (religiösen, wirtschaftlichen) Netzwerken beleuchtet. Eine weitere Möglichkeit, sich der vorkolonialen und rezenten Siedlungsgeschichte des Südwestens von Burkina Faso anzunähern, ist die Rekonstruktion der Geschichte des Goldabbaus und der Einbettung der segmentären Gesellschaften des Gebietes in überregionale wirtschaftliche und politische Beziehungen. Obwohl Goldausbeutung am Schwarzen Volta offensichtlich jahrhundertelang existierte, ist die Literatur zu diesem Thema bislang vergleichsweise spärlich, was mit dem Fehlen zuverlässiger archäologischer Befunde zusammenhängt. Die von einem niederländischen Projekt geplanten Grabungen in den Ruinen von Loropéni bei Gaoua könnten hier neue Anhaltspunkte liefern. Zur Geschichte der vorkolonialen Goldproduktion im heutigen Burkina Faso liegen bislang nur die Arbeiten von Kiéthéga (1983), Perinbam (1988) und Schneider (1990) vor. Während Kiéthéga sich auf das Gebiet von Poura bzw. auf die traditionelle Goldproduktion von Gurunsi-Gruppen beschränkte, versuchte Perinbam eine Einordnung vorkolonialer Goldproduktion am Schwarzen Volta in den Kontext der Mande-Handelsnetzwerke. Ihr Beitrag beruhte jedoch auf reinen Archivstudien, was zu unhaltbaren Mutmaßungen über die vorkolonialen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Gegebenheiten in der Region führte. Notwendig ist hier eine Synthese der quellenkritischen Auswertung relevanter Archivmaterialien und der im Rahmen eigener Regionalforschung gewonnenen Erkenntnisse. Erst dadurch wird eine Einbettung der Entwicklung des Goldabbaus in den Kontext der wirtschaftlichen und politischen Geschichte der gesamten Region (vgl. Dumett 1998) sowie ein Vergleich mit den gegenwärtigen Entwicklungen möglich. Weder die älteren noch die rezenten Arbeiten zur Siedlungsgeschichte der Untersuchungsregion thematisieren explizit die Raumkonzeption(en) der Siedler und die Frage, wie sie sich ihr neues Habitat praktisch und symbolisch aneignen. Gerade hierzu lohnt sich der Vergleich zwischen den expansiven Gruppen wie Dagara und Lobi und den eher stationären oder sogar zurückweichenden Gruppen wie Pwo und Dyan. Die Unterschiede sind dabei offenbar weniger auf dem Gebiet der Agrartechniken zu suchen, als vielmehr - in diese Richtung weisen die bisherigen Ergebnisse der Projektmitarbeiter - im Bereich der Struktur der Verwandtschaftsverbände und der kulturellen Ideale (Autonomie/Unabhängigkeit als Männlichkeitsideal versus Ideale des Familienzusammenhalts). Zu Fragen der Auswirkung der sozialen Organisation auf die Raumwahrnehmung und -aneignung sowie genereller zu "mentalen Landkarten" und zur Bedeutung von Landmarken und raumbezogenen Ritualen für das Geschichtsbewußtsein finden sich viele Anregungen in der neueren Diskussion über Landschaft und Lokalität in Afrika (besonders in Luig und von Oppen 1997), die das geplante Projekt aufgreifen wird. In dieser neueren Diskussion wird auch nach den historischen Veränderungen der Raumkonzeptionen gefragt, etwa durch die koloniale "Inwertsetzung" von Räumen und ihre Einbettung in den Kontext von Kolonial- und später Nationalstaaten. Ebenso wird die Angemessenheit des europäischen "Dorf"konzepts hinterfragt und gefordert, die kolonialen Verdörflichungsprozesse zu untersuchen (von Oppen 1997). Auch dies sind für den Südwesten Burkina Fasos bisher nicht bearbeitete Themen. Zwar liegen einige Studien zu den politischen Dimensionen der kolonialen Transformation vor (Duperray 1984, Somda 1984, Kambou-Ferrand 1993, Somé 1993), aber die Veränderungen des Bodenrechts und der Siedlungsdynamik werden hier nicht behandelt. Auch die Auswirkungen der neuen territorialen Grenzen - internationale und interne Verwaltungsgrenzen - auf die indigenen Raum- und Grenzkonzeptionen wurden bisher kaum thematisiert. Die Arbeit von Hien (1996) bietet hier erste Anhaltspunkte, bedarf aber vertiefender Untersuchungen. Dabei ist insbesondere die radikale Historisierung des bislang kaum hinterfragten Konzepts von Erdschreingebieten notwendig; wichtige Vorarbeiten dazu finden sich in der vergleichenden Studie von Zwernemann (1968). Ohne eine gründliche Bearbeitung dieses Themenkomplexes kann auch die Problematik der rezenten Immigration und der oft damit einhergehenden bodenrechtlichen Konflikte nicht angemessen verstanden werden - Lücken, die das geplante Forschungsprojekt schließen helfen will.
Literatur
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