Projekt Homepage > Projektphase 1997-1999 > Teilprojekt A 8: Religiöse Netzwerke

Fragestellungen
Arbeitsgebiete und Methoden
Ergebnisse
Religiöse Netzwerke
Der Djoro von Nako
Untersuchungsregion
Ökonomische Aspekte
Popularität von Kulten
Neues zu den Birifor
Literatur
Allgemeines
Stellung im SFB 268
Der Forscher

Ethnisch und linguistisch unabhängige Grundprinzipien bei der Entstehung religiöser Netzwerke

Auf ihrem Migrationsweg führten die einwandernden Familienverbände oder deren Pioniere bereits die Kultobjekte mit sich, die für die individuelle oder häusliche Protektion sorgten und mobil waren. Die eigentlich wichtigen Kultobjekte blieben jedoch - häufig bis zum heutigen Tag - am Hauptort der betreffenden Lineage. Grund hierfür ist die Verflechtung von Ahnenverehrung und der Auffassung der Belebtheit der Erde, auf der die Ahnen siedelten. So entstand von Anfang an, d.h. vom Moment der Abspaltung einer Gruppe von ihrer Basis an, ein Bewußtsein eines rituellen Zentrums, und zwar umso deutlicher, je mehr man sich von diesem entfernte.

Im Verlauf der Migration begegnete man natürlichen Phänomenen wie Wasserläufen, Hügeln, Höhlen usw., denen in der Kosmologie aller am Besiedlungsprozess des Südwestens beteiligten Gruppen herausragend spirituelle Kräfte beigemessen werden. Jedesmal, wenn ein Fluß überquert oder ein Hügel passiert werden mußte, trat nun ein Grundprinzip in Kraft, das ebenfalls ethnisch übergreifend zu sein scheint: Es ist nicht möglich, mit einem mitgeführten spirituell aufgeladenen Objekt im Gepäck ein anderes Objekt dieser Art - sei es natürlich oder artifiziell - zu passieren, ohne eine wie auch immer geartete rituelle Kommunikation herzustellen, also z.B. einen Schwur zu leisten, eine Opferhandlung zu vollziehen oder ähnliches. Das Wissen über diese Versprechungen und Opferverpflichtungen wurde an die folgenden Generationen weitergegeben, da nur auf diese Art und Weise der religiöse Schutz der Gruppe gewährleistet blieb. In der Notwendigkeit für die nachfolgenden Generationen, dieses Andenken zu bewahren, begründet sich die Entstehung von Kulten, die an natürliche Phänomene gebunden sind und periodisch praktiziert werden, und damit auch die Entstehung von Pilgerrouten im Raum.

Schließlich traf man - wie die oralen Traditionen belegen - in den meisten Fällen nicht etwa auf einen unbewohnten Busch, sondern auf bereits von anderen Gruppen rituell verwaltetes Land sowie auf deren darauf installierte Kultobjekte. Auch in dieser Situation kommt das zuvor erwähnte und in der Regel von beiden Seiten akzeptierte Prinzip ins Spiel: Es mußte ein rituelles Arrangement zwischen den jetzt lokal vorhandenen, aus verschiedenen Quellen stammenden religiösen Entitäten getroffen werden. Durch diese Assoziation der mitgebrachten mit bereits vorhandenen Vorstellungen und Praktiken entstanden Kooperationsformen, die institutionellen Charakter annahmen, da ihr Fortbestand über die Zeit garantiert werden mußte. Ein häufig anzutreffendes Beispiel hierfür sind die verstreuten heiligen Orte von Erstsiedlern, die in der Folge in den Bereich des Erdschreins einer neu hinzukommenden Gruppe fielen.

Wir haben es also im gesamten Besiedlungsprozess mit vier Grundphänomenen zu tun:

mit der Entstehung eines zentralen rituellen Bezugspunktes an den Klan- und Gründerschreinen am ursprünglichen Siedlungsort als religiöse Repräsentation der Klangemeinschaft. Dabei ergibt sich die eigentlich paradoxe Situation, daß dieses Zentrum für die Weggegangenen allmählich zur Peripherie wird - zu einem "center out there" (Turner 1973) -, eine Peripherie jedoch, der man sich bis heute bei schwerwiegenden spirituellen Aufgaben verpflichtet fühlt, und die man dazu regelmäßig zu besuchen hat
mit der Entstehung heiliger Orte entlang der Wegstrecke der Pioniere, der religiösen Besetzung des Raumes also und der Vergegenwärtigung seiner Erschließung
mit der Herausbildung religiös-institutionalisierter Formen der Interaktion zwischen Gruppen von "Erstsiedlern" und "Späterkommenden" gleicher oder unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit
mit der Entstehung von interethnischen Allianzen und ihrer Befestigung über die Zeit hinweg auf der Grundlage religiöser Netzwerke

Ein weiteres offenbar allgemeingültiges Prinzip kann hinzugefügt werden: Uns wurde in keinem der Interviews gesagt oder angedeutet, daß das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen spirituellen Praktiken oder Objekten unterschiedlicher Akteure zu einer destruktiven Auseinandersetzung geführt hätte. Grundregel ist vielmehr der gegenseitge Respekt der religiösen Praktiken. So müssen Opfertiere auch mit zufällig Hinzukommenden geteilt werden, und grundsätzlich werden Kultorte respektiert. Im schlimmsten Falle herrscht Mißtrauen oder Angst vor, und man geht sich mit seinen Praktiken buchstäblich aus dem Weg. Dadurch kam es immer wieder zur Verlagerung bzw. zu einer Spaltung von Kultorten. Ganz besonders gilt dieser gegenseitige Respekt für die eigentlich esoterischen Abschnitte von Initiationskulten.

 

Kulthandlungen und -objekte scheinen also im Zusammenspiel der beteiligten Gruppen von allen gleichermaßen respektiert worden zu sein. Das kann auch darauf zurückgeführt werden, daß man es mit ähnlichen, von allen gleichermaßen geachteten und gefürchteten spirituellen Kräften zu tun hat, deren Emanationen Nichteingeweihte meist nicht einmal sehen dürfen. Es sei hinzugefügt, daß die katholische Kirche offenbar der bislang einzige mobile Kult war, der diese Prinzipien grob mißachtet hat.

Die Herausbildung der religiösen Netzwerke im Zuge der Ansiedlung von Dagara, Birifor, Lobi, Dyan und anderen im Südwesten Burkina Fasos spielte sich schrittweise ab und läßt sich analytisch auf vier Ebenen betrachten. Dabei soll aber keine historische Zwangsläufigkeit im Sinne eines evolutionistischen Schemas unterstellt werden. Die Herausbildung von Wegesystemen im Raum auf der Grundlage des religiös motivierten Aufsuchens von Herkunftsorten oder heiligen Stätten beispielsweise führt nicht zwangsläufig zu einer größeren kollektiven Institutionalisierung; dieses Wegesystem kann durchaus auf einzelne Familien beschränkt bleiben. Das zentrale Argument, das unser Modell veranschaulichen soll, besagt aber, daß sich in keinem der untersuchten Fälle eine bestimmte Ebene des Gesamtsystems etablieren konnte, ohne daß die jeweils darunter liegenden Ebenen bereits vorhanden gewesen wären.

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Auch soll die Anordnung der Ebenen im Modell nicht suggerieren, die jeweils höhere Ebene sei auch die im Bewußtsein der Akteure wichtigere. Es ist vielmehr umgekehrt: Die im Bild zuunterst liegende Ebene der Verehrung der Erde und der Ahnen kommt in der Hierarchie der religiösen Institutionen eine beherrschende Stellung zu, und zwar unabhängig davon, ob die Befragten Dagara, Pwo oder Birifor waren, oder ob es sich um Birifor handelte, die nur in den Djoro oder zugleich in den Djoro und den Baghr der Dagara initiiert waren. Die modellhafte Darstellung gibt also nicht die Hierarchie der Ebenen religiöser Netzwerke wieder, sondern deren Überlagerungen. Die Untersuchung religiöser Netzwerke, so hat sich gezeigt, muß bei der Analyse der Interaktionen auf der obersten, zunächst sichtbaren Ebene ansetzen, und sich dann zu den darunter liegenden Schichten "vorarbeiten".

Auf der ersten Ebene entsteht die dauerhafte Beziehung zum verwandtschaftlichen Ursprung, d.h. die Konsolidierung von Gemeinschaft über Raum und Zeit. Die auf dieser Ebene praktizierten Kulthandlungen beziehen sich auf die Ahnen, auf die großen Familienfetische und auf die Erde als lebensstiftendes Prinzip. Opferhandlungen an den Ursprungsorten finden aufgrund familiärer oder auch individueller Probleme statt (Kindersterblichkeit, Notlagen, Unfruchtbarkeit von Frauen etc.), und werden in Form und Umfang von Wahrsagern am Wohnort der Betreffenden vorgeschrieben. In der Regel ist diese "therapeutische Pilgerreise" (Rivière 1995) an die Herkunftsorte jeweils zweimal nötig, nämlich einmal zur Kontaktierung der Ahnen und der Erde und zum Aussprechen des Anliegens und ein zweites Mal - sofern sich die Situation daraufhin zum Besseren gewendet hat - zur Danksagung in Form erneuter Opfergaben. Tritt keine Besserung ein, muß der Vorgang entsprechend wiederholt werden.

Das zweite Niveau religiöser Netzwerke bildet sich mit der Ausdehnung der Gruppe im Raum heraus. Es entstehen heilige Orte der Verehrung natürlicher Phänomene, Pilgerrouten und Initiationswege. Nachfolgende Generationen müssen zu diesen Orten zurückkehren, um den spirituellen Kräften für die Erfüllung der Wünsche zu danken, die die Ahnen bei ihrem Überqueren ausgesprochen hatten. Auf dieser Ebene stattfindende religiöse Handlungen können, wie bei der ersten Ebene, individuell-therapeutischer Natur sein; meist entwickeln sich hier aber schon kollektive Formen der rituellen Vergegenwärtigung der Gemeinschaft im Raum, die sich in Form regelrechter Pilgerrouten verfestigen können. Differenziert sich eine Lineage an den jüngeren Siedlungsorten weiter aus und migrieren einzelne Familien von dort aus weiter, so kann sich das gesamte Bezugssystem auf den beiden unteren Ebenen zu neueren Siedlungsorten hin verlagern. An die Stelle der ursprünglichen Orte des übergeordneten Klans treten dann als neue zentrale Bezugspunkte die Orte, von denen aus eine weiterführende Abspaltung einzelner Familien erfolgte. An dem im Modell dargestellten Muster ändert sich dabei nichts, wohl aber an der Position des gesamten Netzwerkes im Raum.

Auf dem dritten Niveau kommt es zur Entstehung und Regulierung von institutionalisierten Kulten und Wechselbeziehungen zwischen Kollektiven. Bestehende Pilgerrouten und heilige Orte werden in größere rituelle Topographien eingegliedert. Durch partielles Delegieren ritueller Aufgaben entstehen wechselseitige Abhängigkeiten und Hierarchien. Die religiösen Praktiken sind jetzt mit dem Fortbestand größerer Kollektive verbunden und spielen sich im Rahmen umfangreicher Protokolle periodisch stattfindender Initiationen ab. Es zeigen sich im Vergleich der Initiationen im Südwesten Burkina Fasos hier durchaus große Unterschiede in der Bedeutung von rituellen Wegen und Orten und in der Art und Verbindlichkeit der Protokolle und der Periodizität. Die integrative, identitäts- und lebensstiftende Funktion der religiösen Institutionen auf dieser Ebene, ihre gruppenübergreifende Anziehungskraft und der Bezug zu den beiden darunterliegenden Ebenen sind jedoch bei allen Gruppen gleich.

Auf dem vierten Niveau schließlich - das für den von außen kommenden Betrachter das zunächst beobachtbare ist - wirken die Allianzen auf der Grundlage religiöser Netzwerke auf den historischen Gesamtzusammenhang interethnischer Beziehungen und politischer Machtverhältnisse ein. Es entstehen weitreichende einseitige oder gegenseitige Abhängigkeiten und außerdem ein übergeordnetes Bezugssystem, das es den beteiligten Gruppen ermöglicht, divergierende Weltbilder und kulturelle Unterschiede gegenseitig zu respektieren.

Die Handlungsspielräume und die Problemlösungsmöglichkeiten für einzelne Akteure oder Gruppen sind um so größer, je vielschichtiger ihre Einbindung in das religiöse Netzwerk organisiert ist. Dies läßt sich in der Darstellung vom Standpunkt eines fiktiven Informanten X der Ethnie B aus nachvollziehen. Seine Vorfahren überquerten, von der ghanaischen Seite aus kommend, den Volta und opferten am Ort der Flußüberquerung, installierten auf ihrem Weg kleinere Kultorte an Nebenflüssen des Bougouriba, schlossen sich auf ihrer Station in der Gegend von Nako einem größeren Initiationskult an, und ließen sich schließlich am Wohnort des Informanten nieder, wo bereits andere Familien der Ethnien A, B und C siedelten. Bei familiären Problemen konsultiert X den Wahrsager seines Klans und begibt sich auf Pilgerfahrt entlang der Route seiner Vorfahren bis ins alte Land auf der anderen Seite des Volta. Seine Kinder läßt er durch Spezialisten der Ethnie A initiieren; die guten nachbarschaftlichen Beziehungen mit B-Familien beruhen ebenfalls auf der gemeinsamen Mitgliedschaft von B- und C-Klans im von A-Familien betriebenen Initiationskult.

Es steht unterdessen nicht im Widerspruch zu den auf verschiedenen Ebenen integrierenden, kathartischen Eigenschaften religiöser Netzwerke, daß es in bestimmten historischen Situationen auch zur Instrumentalisierung von Kulten für partikulare politische Interessen kam. So zeigt das folgende Beispiel des Djoro von Nako, daß die Kultpolitik der Pwo gegenüber den Lobi am Ende des 19. Jahrhunderts zwar zu einer dauerhaften Abhängigkeit der letzteren von den ersteren geführt hat, zugleich aber destruktive gewaltsame Auseinandersetzungen weitestgehend verhindert wurden. Dieser Prozeß hat sich mit der Entstehung von Filialen des von Lobi betriebenen Djoro im Bereich der Birifor und Dyan fortgesetzt und auch hier zu einer weitestgehend friedlichen Koexistenz beigetragen.

Sonderforschungsbereich 268 "Kulturentwicklung und Sprachgeschichte im Naturraum Westafrikanische Savanne", Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Verwendung von Texten, Bildern oder Karten (außer für private Zwecke) nur mit schriftlicher Zustimmung der Autoren.
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Letzte Aktualisierung 05/2002.