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Kollektive Identitäten in einem multiethnischen Umfeld (Richard Kuba, Carola Lentz)

Ein begrenztes ethnisches Selbstbewußtsein scheint auch in der vorkolonialen Zeit existiert zu haben. Die vielfältigen Hinweise auf linguistisch-kulturelle Assimilation ganzer Lineages lassen sich nur schwerlich anders als in Kategorien ethnischer Konversion erklären. Besonders deutlich ist dies bei den Sisala und den Pwo, bei denen viele Familien explizit auf einen anderen ethnischen Hintergrund verweisen. Bei den Dagara ist dies zwar bis auf die Yeri-Klane nicht der Fall, trotzdem ist auch hier der Einfluß der kolonialen Administration auf die ethnische Nomenklatur begrenzt: Obwohl die Dagara während der gesamten Kolonialzeit als zwei unterschiedliche Ethnien geführt wurden (Dagari und Oulé), gibt es heute keinen Zweifel an der gemeinsamen ethnischen Identität der beiden Dialektgruppen Lobr und Wiile.

Die verschiedenen Assimilations- und Konversionsprozesse in der Region lassen nicht auf die vorkoloniale Abwesenheit, sondern durchaus auf die Existenz von ethnischen Grenzen schließen; allerdings waren sie offenbar sehr viel durchlässiger als in der Kolonialzeit. Die Mechanismen des Identitäts- und Sprachwechsels waren vielfältig. Nicht selten sprechen die Traditionen von einem unbekannten Angehörigen einer fremden ethnischen Gruppe, der von Klanmitgliedern im Busch "gefunden", aufgenommen und gepflegt wurde und der schließlich im Gastklan Frauen nahm und eine eigene Lineage begründete. Mit derartigen Geschichten werden beispielsweise fremde ethnische Hintergründe bestimmter Pwo-Klane erklärt sowie ihre rituelle Abhängigkeit von anderen Klanen. Vermutlich stehen solche Topoi als Chiffre für den Sklavenursprung eines adoptierten Klans. Zwar wird durchaus zugegeben, daß eine Reihe von Pwo-Klanen unfreien Ursprungs sind; diesen Ursprung aber konkret zu benennen, ist ein gesellschaftliches Tabu, zumal diese Klane im täglichen Umgang in keiner Weise benachteiligt wurden und werden. Bei den Pwo sind darüber hinaus Fälle verbürgt, in denen der ursprüngliche Gastklan ausgestorben ist und der Adoptivklan die rituelle Kompetenz "geerbt" hat und allein weiterführt.

Ein anderer Mechanismus ethnischer Konversion war die Integration bestimmter Berufsgruppen. Die Yeri-Klane der Dagara und die Gnira-Klane der Pwo waren ursprünglich und sind z.T. noch heute Händler mit einem Mande-Dyula- oder Dafing-Hintergrund. Obwohl sprachlich und kulturell weitgehend in verschiedenen Aufnahmegesellschaften assimiliert, erkennen die Yeri und Gnira ihre Verwandtschaft untereinander und den gemeinsamen Ursprung an. Als spezifische kulturelle Merkmale haben sie u.a. geringfügig unterschiedliche Beerdigungszeremonien und einen Maskenkult. Letzterer ist im übrigen auch bei gewissen Schmiede-Klanen der Pwo zu finden, die einen Bwaba-Ursprung beanspruchen.

Recht häufig scheinen auch interethnische Heiraten eine Rolle gespielt zu haben. So gibt es Pwo- und Sisala-Klane, denen ein Dagara-Ursprung nachgesagt wird, weil sie von einer Dagara-Mutter abstammen und viel Zeit mit den Mutterbrüdern verbracht haben. Umgekehrt scheinen Dagara nicht oder nur sehr selten Pwo- oder Sisala-Frauen genommen zu haben. Insgesamt ist bei den Dagara heute ein klarer umrissenes ethnisches Selbstbewußtsein anzutreffen, das sich vor allem aus der erfolgreichen territorialen Expansion und der historischen Verdrängung der Pwo und der Sisala speist. Ob und in welchem Umfang eine solche Gruppenidentität in vorkolonialer Zeit existierte, läßt sich nur schwer feststellen, nicht zuletzt, weil die frühe und massive Christianisierung der Dagara und die daraus hervorgehende Bildungselite weit mehr als bei den Nachbargruppen zum Entstehen ethnischen Gemeinschaftsbewußtseins beitrugen. Wahrscheinlich verdichteten sich aber auch in vorkolonialer Zeit die vielfältigen, weite Räume durchkreuzenden und verbindenden Klanallianzen und Freundschaften der Dagara-Sprecher durchaus zu einem "dezentralen" und fragmentierten ethnischen Gemeinschaftsbewußtsein, insbesondere an den front pionnier, in den Zonen des Kontakts mit Sprechern anderer Sprachen.

Heute dominieren zumindest in demographischer Hinsicht die Dagara als siebtgrößte ethnische Gruppe Burkina Fasos die sehr viel kleineren Nachbargruppen der Pwo, Sisala und Dyan, bei denen sich erst in jüngster Zeit ein Prozeß identitärer Rückbesinnung andeutet. Dennoch sind die interethnischen Beziehungen meist nicht konfliktträchtig, wozu insbesondere die gegenseitigen Scherzbeziehungen beitragen. Am ausgeprägtesten sind diese allerdings nicht zwischen den ethnischen Gruppen als ganzen, sondern zwischen einerseits Pwo- und Sisala- und andererseits Dagara-Klanen, die sich - vor allem wegen ähnlicher Klantabus - als verwandt betrachten. Andererseits kommt es aber östlich des Volta und in Nordwest-Ghana auch zu Konflikten zwischen Sisala und Dagara - insbesondere dort, wo die Dagara die Bevölkerungsmehrheit stellen, die Sisala aber seit der Kolonialzeit auf der Basis ihrer Position als Landeigentümer die politische Kontrolle beanspruchen.

Einleitung
Forschung und Methoden
Arbeitsergebnisse und ihre Bedeutung
Mobilitätsmuster und Landnahmestrategien
Fallstudien
Gemeinschaftsbildung
Kollektive Identitäten im multiethnischen Umfeld (Kuba, Lentz)
Interethnische Beziehungen der Dyan und Pwo in Ouan (Michaela Oberhofer)
Ethnische Implikationen staatlich gelenkter Migration: Das Umsiedlungs-Projekt A.V.V. (Katja Werthmann
Bodenrecht
Teilprojekt A 8: Politik und Geschichte mobiler Kulte
Offene Fragen und Ausblick

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Letzte Aktualisierung 05/2002.