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Niego: Intra- und interethnische Kontroversen um die Siedlungsgeschichte (Carola Lentz)

Dyan-Gehöft in Ouan (Dept. Bondigui, Prov. Bougouriba). Foto: M. Oberhofer, 1999.Niego ist eine der älteren und großen Dagara-Ortschaften östlich des Volta, mit mehreren, relativ weit voneinander entfernt liegenden Ortsteilen (Susuli-puo, Bevuugang, Tamaogang-Gaper, Wiekanale, Kyelkyel; siehe Karte des Untersuchungsgebiets). Diese verschiedenen Ortsteile wurden vermutlich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sukzessive von zwei eng miteinander verwandten Dagara-Patriklans, den Tambiile und den Kpanyaane, gegründet. Später wurden auch noch Mitglieder anderer verwandter und befreundeter Dagara-Patriklans zur Ansiedlung eingeladen. Daß die Siedlung auf einst von Sisala kontolliertem Land errichtet wurde, ist unstrittig; kontrovers ist aber, ob die Ansiedlung friedlich und mit dem Einverständnis der Sisala erfolgte oder durch bewaffnete Übergriffe der Dagara erzwungen wurde. Die Positionen in dieser Kontroverse verlaufen allerdings nicht etwa, wie man vielleicht erwarten würde, entlang der Trennlinie zwischen Sisala-"Verlierern" und Dagara-"Gewinnern", sondern quer dazu. Möglicherweise erklären sich die Divergenzen aus tatsächlichen Unterschieden der Landnahmestrategien in den verschiedenen Ortsvierteln, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Sisala-Landeigentümern gegründet wurden. Interessanterweise wurde der Sisala-Ortsname Niego - er verweist auf einen das Siedlungsgebiet durchquerenden Wasserlauf - beibehalten, während die Namen der einzelnen Ortsviertel an die Dagara-Ortsgründer erinnern.

Diese Ortsgründer kamen in ihr neues Habitat auf verschiedenen Routen aus einem gemeinsamen Ursprungsgebiet in der Nähe von Lawra im heutigen Nordwest-Ghana, teils direkt - auf dem Weg über das nördlich von Lawra gelegene Burutu -, teils mit einigen Zwischenstationen westlich des Volta. Ohne einen faktischen Kern dieser Erzählungen über die Herkunftsorte und Migrationsrouten gänzlich leugnen zu wollen, müssen manche der widersprüchlichen Varianten wohl auch auf das Bedürfnis zurückgeführt werden, im Medium der erinnerten Topographie sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Differenzen der heute gemeinsam siedelnden Klanfraktionen zu begründen. So geben etwa die Kpanyaane Wuli als Ursprungsort an, während die Tambiile auf das in Wulis Nachbarschaft angesiedelte, aber nicht genau zu lokalisierende Tengkor (wörtlich: altes Land, alte Siedlung) verweisen. Zu diesem vage gemeinsamen, aber doch nicht identischen Ursprung passen auch die ätiologischen Erzählungen, welche die Trennung der einst einen gemeinsamen Klan (Bimbiile) konstituierenden Kpanyaane und Tambiile mit Episoden illegitimer zwischengeschlechtlicher Beziehungen begründen. Während der faktische Kern dieser Erzählungen nur schwer einzuschätzen ist, sind die Hinweise auf die unterschiedlichen Stationen vor der Ansiedlung in Niego vermutlich durchaus wörtlich zu nehmen, zumindest bezüglich der letzten Etappen. Generell müssen nämlich Dagara-Neusiedler diese Etappen zu bestimmten Zeiten auch praktisch zurückverfolgen, um bei wichtigen Familienangelegenheiten an den alten Ahnenschreinen zu opfern (vgl. dazu auch den Bericht von A8). Sind sich die Klanfraktionen über diese unterschiedlichen Migrationsrouten relativ einig, so streiten sie sich wiederum über die Frage der präzisen Reihenfolge der Ansiedlung der Ortsgründer und ihrer genauen verwandtschaftlichen Beziehung (Brüder oder Väter/Söhne) - ein Streit, in dem sich die aktuelle Konkurrenz um Prestige und Ämter niederschlägt.

Vor diesem Hintergrund gegenwärtiger, vermutlich aber schon aus der Kolonialzeit datierender Konflikte müssen auch die widersprüchlichen Versionen zum Erwerb des Erdschreins von Niego gedeutet werden. Dem Außenstehenden werden hier von verschiedenen Informanten die folgenden Versionen präsentiert, die auf den ersten Blick miteinander unvereinbar sind:

Die Gane-Erdherren aus Ouessa, das alle Beteiligten als den älteren Dagara-Ort anerkennen, behaupten, die Kpanyaane von Niego seien ihre Neffen/Schwestersöhne (arbile) und hätten ursprünglich einen von Ouessa abhängigen Filialschrein erhalten und in Niego-Susulipuo installiert. Nur das Land hätten die Kpanyaane von den Sisala erobert, aber den Schrein aus Ouessa mitgebracht. Erst aufgrund des wachsenden Drucks seitens der Sisala von Hiela und vor allem aufgrund rezenter Streitigkeiten über die Aufteilung der den Erdherren zustehenden Opfergaben zwischen Ouessa und Niego hätten die Kpanyaane sich dann einen eigenen Schreinstein in Hiela "gekauft" und die Beziehungen zum Ouessa-Schrein abgebrochen.

Während die Gane mit der Zuweisung der Neffen-Position ihre Seniorität gegenüber den Kpanyaane postulieren, insistierten letztere, sie seien gleichberechtigte Scherzpartner (lonluore) der Gane. Die Erdherren von Niego-Susulipuo leugnen, jemals einen Schreinstein aus Ouessa erhalten zu haben; sie hätten gleich zu Beginn ihrer Ansiedlung im Austausch gegen 10.000 Kaurimuscheln, eine Kuh und etliche Hühner einen Stein von den Sisala aus Hiela erhalten, seien aber aufgrund dieser Zahlung von Hiela ganz und gar unabhängig. Ein Erdschrein sei wie eine Frau, für die man einen Brautpreis, eben jene Kauris und Tiere entrichten müsse.

Die Tambiile im Ortsteil Niego-Bevuugang beanspruchen ihrerseits, einen eigenen Schreinstein von den Sisala aus Kelendou erhalten zu haben, und zwar im Austausch gegen eine der Töchter des Dagara-Ortsgründers. In der Tat, so die Tambiile-Informanten, sei der älteste Ortsteil von Niego auf von Ouessa kontrolliertem Land gegründet worden. Ouessa habe aber keinen Schreinstein gegeben, sondern die Kpanyaane aus diesem Ortsteil seien anfangs noch regelmäßig für Opfer nach Ouessa zurückgekehrt. Richtig sei auch, daß die Sisala von Hiela den Kpanyaane einen Schreinstein gegeben, weil die Ortsteile Susulipuo und Tamaogang sowie Wiekanale auf ihrem Land lag, Bevuugang dagegen auf Kelendou-Land. Weil aber die Tambiile und die Kpanyaane so eng miteinander verwandt seien, habe man in den ersten Jahrzehnten gemeinsam geopfert und zwar in Bevuugang, am Schrein aus Kelendou, weil ein im Tausch gegen Frauen erworbener Stein mächtiger sei als ein "bezahlter". Konflikte über die Aufteilung der Opfergaben, so der Erdherr von Bevuugang, hätten vor einigen Jahren dazu geführt, daß Tambiile und Kpanyaane getrennt opfern. Diese Behauptung wurde wiederum vom Erdherren in Susulipuo bestritten: man habe gemeinsam in Susulipuo geopfert, nicht in Bevuugang, und nur der Erdherr von Bevuugang habe sezessioniert, während die anderen Bewohner dieses Ortsteils nach wie vor zum Schrein in Susulipuo kämen.

Die Sisala-Erdherren von Hiela bestätigen die Übergabe eines Schreinsteins an die Kpanyaane-Erdherren von Niego. Sie streiten allerdings ab, daß dafür jemals ein Preis entrichtet worden sei, und insistieren, daß Niego sich bei größeren Problemen nach wie vor noch an Hiela wenden müsse. Im übrigen, so präzisieren sie, sei die Übergabe des Schreins erst zu Beginn der Kolonialzeit erfolgt.

Die Sisala-Erdherren von Kelendou geben zu, daß sie den Ortsgründern von Bevuugang Land zum Siedeln gegeben und sich die beiden auf dem Gebiet von Bevuugang lebenden Sisala-Familien unter dem Druck der zahlreicheren Dagara nach Kelendou zurückgezogen hätten. Sie bestreiten aber, den Dagara einen Schreinstein überreicht zu haben; im Tausch gegen die Dagara-Tochter hätten sie vielmehr Lebensmittel gegeben.

Ohne hier im einzelnen auf die Wahrscheinlichkeit der verschiedenen Versionen und ihre Interessenbesetztheit eingehen zu können, wird doch deutlich, daß das komplexe Netzwerk von Klanallianzen und -konkurrenz bei den Dagara die religiöse Topographie mindestens ebenso stark prägt wie die Frage, auf wessen "Territorium" und folglich Erdschreingebiet die Siedlungen tatsächlich errichtet wurden. Darüber hinaus zeigt sich, daß auch Machtfaktoren bei der Übergabe von Erdschreinen eine Rolle spielen. Die Sisala von Hiela konnten ihre Ansprüche auf Eignerschaft des Niego-Landes offenbar erst im Zuge der kolonialen Pazifikation geltend machen. Bezüglich von Opfern am Erdschrein haben sich die Dagara zuvor möglicherweise tatsächlich mit Opfern am Schrein von Ouessa begnügt und erst im Zusammentreffen des zunehmenden Drucks der Sisala und des Wunsches nach Unabhängigkeit von Ouessa einen eigenen Schrein erworben. Dieser Umstand würde auch darauf verweisen, daß man sich die vorkolonialen Erdschreingebiete nicht als mit klaren Linien umgrenzte homogene Flächen vorstellen sollte. Es scheint sich vielmehr um spirituelle Zentren zu handeln, deren Einfluß zwar generell zu den "Rändern" hin ausdünnt, aber auch von den konkreten Opferhandlungen und -wegen der lokalen Bewohner abhängt.

Einleitung
Forschung und Methoden
Arbeitsergebnisse und ihre Bedeutung
Mobilitätsmuster und Landnahmestrategien
Fallstudien
Niego: intra- und interethnische Kontroversen um die Siedlungsgeschichte (Lentz)
Topoi der Siedlungsgeschichte (Kuba)
Siedlungsgeschichte der Dyan und Pwo in Ouan (Oberhofer)
Lehrforschung
Gemeinschaftsbildung
Bodenrecht
Teilprojekt A 8: Politik und Geschichte mobiler Kulte
Offene Fragen und Ausblick

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Letzte Aktualisierung 05/2002.