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Topoi der Siedlungsgeschichte (Richard Kuba)

Bau eines Speichers in einem Dyan-Gehöft in Ouan (Dept. Bondigui, Prov. Bougouriba). Foto: M. Oberhofer, 1999.Die Siedlungsgeschichte der Untersuchungsregion westlich des Schwarzen Volta wird von den Gewährsleuten häufig in einer stereotypen Abfolge zusammengefaßt: Zuerst waren die Bwaba da, die Bwaba wurden von den Pwo verdrängt, und die Pwo wiederum wichen den Dagara-Wiile. Das dabei vermittelte Bild massiver Völkerwanderungen ist gewiß irreführend. In Wirklichkeit dürfte es sich um eher kleinräumige Migrationsbewegungen von kleineren Verwandtschaftsverbänden gehandelt haben, die sich über längere Zeiträume hinzogen. Dennoch spricht einiges dafür, daß die Pwo bei ihrer Migration in nordwestlicher Richtung nach der Überschreitung des Volta tatsächlich vereinzelte Bwaba-Gruppen verdrängten, bevor sie selbst weite Teile ihres Siedlungsgebietes für die nachrückenden Dagara räumten.

Die Vorstellung von "Waldmenschen", von Pionieren, die als erste die Wildnis roden, ist im Selbst- und Fremdbild der Pwo tief verwurzelt. Für eine Vorbevölkerung ist in dieser Vorstellung eigentlich kein Platz. Wenn in Dorfgründungsgeschichten der Pwo überhaupt Bwaba erwähnt werden, dann heißt es, man habe nur noch die Ruinen ihrer Häuser vorgefunden. Allenfalls wird zugegeben, daß die Bwaba bei Ankunft der Pwo fortgezogen seien, da sie ein Zusammenleben mit anderen Ethnien nicht schätzen würden. Interessanterweise findet sich bei den Dagara regelmäßig der gleiche Topos, sobald in den Siedlungsgründungsgeschichten die Rede auf die Pwo-Vorbevölkerung kommt: Die Pwo seien freiwillig fortgezogen, weil sie nicht mit den Dagara zusammenleben wollten.

Nun sind die Gründe, die Pwo und Dagara zur Migration veranlaßten, recht unterschiedlich: Die Pwo behaupten, von marodierenden Sklavenjägern und kriegerischen Dagara vertrieben worden zu sein. Die Dagara verweisen dagegen in der Regel auf Hungersnöte und Landknappheit. Man könnte dahinter jeweils die Version der "Gewinner" und "Verlierer" bei der Auseinandersetzung um Land vermuten. Die Dagara würden dann den Versuch unternehmen, die gewaltsame Vertreibung der Pwo als einen friedlichen Territoriumswechsel darzustellen, während die Pwo berichten, was wirklich geschah.

Denkbar ist jedoch auch eine andere Interpretation, die unter Berücksichtigung des geographischen und demographischen Kontextes beide Versionen als zwei Varianten des gleichen historischen Prozesses deutet. Da bei Ankunft der Pwo in der Untersuchungsregion die Bevölkerungsdichte ausgesprochen gering gewesen sein dürfte, war die Erschöpfung der Böden und anderer natürlicher Ressourcen (z.B. Fischfang, Jagd) für sie kein Migrationsgrund. Hingegen waren die Pwo in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Einfällen der Karantao aus Ouahabou ausgesetzt, an die sich die Gewährsleute teilweise lebhaft erinnern. Eine ähnlich prekäre Sicherheitslage ist aber auch für die benachbarten Siedlungsgebiete der Dagara belegt. Neben der Gefahr durch verschiedenen Trupps marodierender berittener Sklavenjägern waren die Siedlungen sowohl der Pwo als auch der Dagara durch gewaltsame Auseinandersetzungen untereinander bedroht und durch vendetta-ähnliche Familienfehden innerhalb der jeweiligen Gruppe. Insofern ist nicht anzunehmen, daß die Sicherheitssituation beider Ethnien wesentlich voneinander abwich. Wenn die Dagara, im Unterschied zu den Pwo, regelmäßig Hungersnöte und Landknappheit als Migrationsgrund nennen, so scheint dies vielmehr auf eine größere Bevölkerungsdichte in ihren Siedlungsgebieten hinzudeuten, in denen zudem die natürlichen Ressourcen z.T. schon von der Pwo-Vorbevölkerung ausgebeutet worden waren.

Während den Dagara für die Expansion nur die Binnenkolonisation minderwertiger Böden oder die mehr oder weniger gewaltsame Verdrängung der Pwo als Optionen offenstanden, bot sich den Pwo Ausweichmöglichkeiten in nördlicher und westlicher Richtung, in der noch relativ gering besiedelte und ressourcenreiche Räume verfügbar waren. Insofern ist die Formel "sie gingen als wir ankamen, sie schätzen das Zusammenleben nicht" nicht nur ein Euphemismus für eine gewaltsame Vertreibung, sondern könnte durchaus den Tatsachen entsprechen. Der Konkurrenz um Ressourcen und potentiellen Konfrontation mit den Neuankömmlingen zogen die Pwo häufig die exit option vor. Ein Pwo-Sprichwort, das diese "kalte" Verdrängung umschreibt, läßt sich wie folgt übersetzen: "Es ist effektiver, ein Haus zu bauen, um die anderen zu vertreiben, als Pfeile gegen sie zu verwenden". Die Unterschiede zwischen der kollektiven Erinnerung der Pwo und der Dagara in Bezug auf die vorkoloniale Migration ist somit auch Ausdruck unterschiedlicher Landnahmestrategien. Diese waren einerseits von unterschiedlichen kulturellen Variablen abhängig, andererseits aber auch geprägt von der spezifischen demographischen und geographischen Situation der jeweiligen Gruppe.

Einleitung
Forschung und Methoden
Arbeitsergebnisse und ihre Bedeutung
Mobilitätsmuster und Landnahmestrategien
Fallstudien
Niego: intra- und interethnische Kontroversen um die Siedlungsgeschichte (Lentz)
Topoi der Siedlungsgeschichte (Kuba)
Siedlungsgeschichte der Dyan und Pwo in Ouan (Oberhofer)
Lehrforschung
Gemeinschaftsbildung
Bodenrecht
Teilprojekt A 8: Politik und Geschichte mobiler Kulte
Offene Fragen und Ausblick

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Letzte Aktualisierung 05/2002.