Nach dem Tod des Königs: Die französische Literatur von der Restauration bis zum II. Kaiserreich
Mit der Hinrichtung Ludwigs XVI. im Januar 1793 und der sich daran anschließenden Terreur, der ein Gutteil des Adels zum Opfer fällt, ist die blutige Demarkationslinie der Moderne gezogen; denn in der Revolution vollzieht sich zugleich ein epistemologischer Bruch, den auch die diversen Restaurationsbewegungen – Empire, Restauration, II. Kaiserreich – nicht mehr werden aufheben können: Treten nun an die Stelle einer in Gott gefügten Ordnung mit dem Vitalismus und den neuen Geschichts-, Gesellschafts- und Lebenswissenschaften Diskurse, die Welt vor allem als veränderlich begreifen, so kommt in dem aufgrund der Industrialisierung einsetzenden Finanzkapitalismus der individuellen Performanz eine Bedeutung zu, wie sie bislang undenkbar war. Die Literatur der Moderne wird sich in diesem Spannungsfeld zu konstituieren und zu verteidigen haben. Sie beginnt in der Romantik mit gleichsam ,souveränen‘ Entwürfen von Autorschaft, muß sich jedoch alsbald als ein Produkt unter anderen auf dem dynamisierten Unterhaltungsmarkt behaupten. Von Hugos krepuskularer Tiefenschau zu Baudelaire, dem „Dichter im Zeitalter des Hochkapitalismus“, von Stendhals Selbstbespiegelungskabinetten zu Balzacs frenetischen Maskeraden, von der ,unheimlich‘-romantischen Phantastik zur kühlen Feier der Dingwelt auf dem Parnaß – das werden einige Stationen des Parcours sein, den wir in dieser Vorlesung durch die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts unternehmen wollen.
Transformationen des Pikaresken: Von der Lozana andaluza zum Buscón
Zwischen 1479 und 1521 erfährt das, was man als Spanien bezeichnet, einen grundlegenden Bedeutungswandel: Miteinander rivalisierende Feudalkönigreiche verschmelzen zu einem Territorialstaat, dessen Herrschaftsgebiet sich über weite Teile Italiens und die Neue Welt erstreckt und der von 1520 bis 1558 zudem zum Kernland des Hl. Römischen Reichs aufsteigt. Hand in Hand mit dieser Extensionsdynamik geht die sog. ,frühkapitalistische Kulturrevolution‘, die für eine bis dato unvorstellbare soziale Mobilität sorgt und die Herausbildung eines neuartigen Konzepts von Subjektivität – des ,infamen Subjekts‘ – befördert. Während bis 1500 feudale Narrative das literarische Feld bestimmen, entwickelt sich nunmehr mit der Pikaresken eine Gattung, die den Ritterroman gleichsam auf die Füße stellt und eben das in die Literatur hineinholt, was diese zuvor ausgrenzte: eine Wirklichkeit jenseits sicherer Standesstrukturen und den Parcours eines Antihelden in einer kontingent gewordenen Welt. Wie sehr das ,infame Subjekt‘ dabei Teil der ,frühkapitalistischen Kulturrevolution‘ ist, zeigt sich bereits an einem der Gründungstexte der Gattung. Francisco Delicados Lozana andaluza (1528) zeichnet die Erfolgsgeschichte einer Prostituierten nach, die nicht nur mit ihrem Körper Geld verdient, sondern die zugleich auch als ein Subjekt körperlicher Lust entworfen wird. Diese Definition des Subjekts aus dem Fleisch bestimmt auch La vida de Lazarillo de Tormes (1552), einen Text, der bei näherem Hinsehen ebenfalls von der Prostitution als erfolgreichem Geschäftsmodell handelt. Während die Lozana und der Lazarillo einigermaßen unverhohlen prekäre Aufstiegsgeschichten ausphantasieren, stellt Francisco de Quevedos Buscón (1628/40) vorderhand einen Text der Abwehr dar: Jeder Aufstiegsversuch des Helden Pablos endet mit einem bedeutungsvollen Sturz, und am Ende bleibt dem wiederholt Gedemütigten nur noch die Flucht in die Neue Welt. Es griffe allerdings zu kurz, den Buscón nur als eine konservative Schließung rinascimentaler Diskursvielfalt zu lesen. Wie kein anderer pikaresker Roman ist er von einem derart exzessiven Spiel der Signifikanten getragen, daß es schwer fallen dürfte, ihn auf eine einsinnige Bedeutung zurückzuschneiden.
Mythos und Bedeutung
Mythen erzählen etwas, für das es noch keine feste Ideologie gibt. Sie haben etwas Vorläufiges, Unabgeschlossenes und Unabschließbares. Eben deshalb sind sie so produktiv, denn sie stellen, wie H. Blumenberg bemerkt, einen Umweg um die jeweils vorherrschenden verbindlichen Diskurse dar. Doch was erzählen Mythen, wenn sie doch nicht bezeichnen können, was sie sagen? Warum lieben wir sie offenbar so sehr, daß wir immer wieder auf sie zurückgreifen? Was haben Mythen mit Intertextualität, was mit Psychoanalyse zu tun? Und vor allem: In welchem Verhältnis stehen die Mythen unseres Alltags mit dem kanonisch gewordenen Arsenal klassischer Mythologie?
In unserem kulturwissenschaftlichen Seminar wollen wir diesen Fragestellungen aus einer komparatistischen Perspektive (Französisch/Spanisch) nachgehen und dabei den Versuch unternehmen, eine Diachronie von der Renaissance bis zur Gegenwart zu erarbeiten. Sinnvoll für die Teilnahme ist in jedem Fall eine zumindest grundständige Kenntnis der klassischen Mythologie – also auszugsweise Ovids Metamorphosen. In theoretischer Hinsicht werden wir uns auf die Arbeiten von Claude Lévi-Strauss (Anthropologie structurale, Mythologiques I), Roland Barthes (Mythologies) und Hans Blumenberg (Arbeit am Mythos) stützen. Die französischen Texte sind in deutscher Übersetzung erhältlich.
Vorstellung von Masterarbeiten und Dissertationen