Etappen lateinamerikanischer Lyrik: Vom Vizekönigreich bis in die Moderne
Der Beginn der lateinamerikanischen Literatur ist epischer Natur: Es sind die großen Eroberungsschilderungen von Columbus und Cortés, die erstmals Amerika in den Diskurs des Abendlandes einrücken. Die Lyrik, wie sie im Vizekönigreich von Mexiko unter der Feder von Sor Juana Inés de la Cruz einen ersten, nachgerade unerhörten Höhepunkt erreicht, geht hier den umgekehrten Weg: Nicht Amerika wird erschrieben, sondern die Dichtungskonventionen der Alten Welt werden importiert. Die damit verbundene Problematik, welche denn die Amerika angemessene lyrische Sprache sei, wird freilich erst nach der Independencia virulent, da nun ja auch die spanische Tradition nicht mehr zuhanden ist. Während sich die europäische Romantik also auf das eigene kulturelle Legat – etwa die mittelalterliche Tradition – rückbesinnen kann, müssen die Dichter der Unabhängigkeit ihren Blick auf das Andere richten; denn eine Rückkehr zur autochthonen Tradition – der Kultur der indios – ist für die weißen Kreolen kein gangbarer Weg.
So kommt es auch, daß die Lyrik von der Romantik bis zum modernismo in je unterschiedlicher Ausrichtung von Anleihen bei den ,fortschrittlichen‘ Engländern und Franzosen lebt. Es wäre aber dennoch falsch, diese Lyrik nur als Abklatsch zu werten. Ebenso wie sich Sor Juana den europäischen Petrarkismus auf originelle Weise aneignet, nutzen die Dichter der Romantik und des modernismo ihre Vorlagen zu einer Herausbildung spezifisch lateinamerikanischer Lyrik. Diese Lyrik ist nicht nur ihrem Wesen nach hybrid, sie ist sich dieser grundlegenden Hybridität auch bewußt – auch wenn sie, wie im Falle Echeverrías im Zeichen eines Homogenisierungsprojektes steht, in dem gerade die indios keinen Platz mehr haben werden. Der Aufwertung des Autochthonen werden sich erst die Avantgarden verschreiben. Im Zuge der mexikanischen Revolution und der in Frankreich begründeten Altamerikanistik rückt das indigene Legat zu einem prestigiösen Identitätsmerkmal Lateinamerikas auf, und so setzt die Lyrik des 20. Jahrhunderts – allen voran Octavio Paz – denn auch jenes ,wilde Denken‘ in sein Recht, das die kulturellen Eliten Lateinamerikas für vierhundert Jahre als ihr radikales Anderes betrachtet haben.
Charles Baudelaire
„La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l’art, dont l’autre moitié est l’éternel et l’immuable“ – so lautet Baudelaires berühmte Minimalpoetik im Peintre de la vie moderne. An Transitorischem und Flüchtigem ermangelt es dem Werk Baudelaires nun wahrlich nicht. Als „Dichter im Zeitalter des Hochkapitalismus“ (Benjamin) trägt Baudelaire jener ungeheuren Beschleunigung Rechnung, die Frankreich unter dem II. Kaiserreich erfaßt. Wo bei Hugo noch ansatzweise jene ,romantische Tiefenschau‘ möglich scheint, mit der sich die Epoche der Restauration rückversichern wollte, tritt bei Baudelaire Tod, Verwesung, Lärm, Verbrechen und vor allem radikales Unglück in den Blick. Paris, der Schauplatz der Fleurs du Mal, ist ein Ort des Diskontinuierlichen, der Kontingenz, an dem nichts lange bleibt, wie es war. Und doch ist Baudelaire kein Dichter der Trauer: Es ist vielmehr so, daß er – wie vielleicht kein anderer vor ihm – die Denkfigur der ,Schwelle‘ ausschreibt und damit ein wesentliches Paradigma der Moderne begründet. Diese ,Schwelle‘ ist aber nicht nur Flüchtigkeit, sondern zugleich der – wenngleich gebrochene –Rückbezug auf die Tradition. Baudelaire ist ein radikaler Erneuerer der Dichtung und dennoch Anhänger konterrevolutionärer Autoren wie Joseph de Maistre. Er vermag es, die literarische Tradition von den Kirchenvätern über Dante und Petrarca – also das, was er im Peintre als „éternel“ und „immuable“ bezeichnet – in seiner Kunst des Transitorischen aufscheinen zu lassen und damit gleichsam festzuhalten. Dieser geste double eignet nicht nur den Fleurs du Mal sondern auch den Petits poèmes en prose. Er ist das eigentliche Faszinosum eines Autors, ohne den die großen lyrischen Projekte der Moderne (Pessoa, Eliot, Pound und noch Paz) nicht denkbar gewesen wären.
Sommersemester 2025 - M.A./ Graduiertenkolloquium
Vorstellung von Masterarbeiten und Dissertationen
verblockt, die Termine werden noch bekannt gegeben