Während die Mülldebatte vor allem die gegenwärtigen Probleme thematisiert, setzt sich das "Provinciale du Cinquantenaire", auch bekannt als Karawane der Unabhängigkeit, mit der Geschichte der letzten 50 Jahre auseinander. Fünf Wochen lang zogen vier Forschungsgruppen, bestehend aus verschiedenen Wissenschaftlern, Journalisten und Fernsehteams, mit Lastwagen, Schiffen und Flugzeugen durch alle Provinzen des Landes. Ziel war es, Zeitzeugenberichte der Unabhängigkeit zu sammeln, das kulturelle Erbe des Landes zu inventarisieren, Erinnerungsorte aufzuwerten und das Wissen über die Geschichte des Cinquantenaire zu fördern. Der Startschuss für die Initiative fiel am 22. Mai an dem Ort in Libreville, an dem ehemals die "Assemblé territoriale" stand und Präsident Léon Mba 1960 die Unabhängigkeit Gabuns verkündete.9
Unterstützt von national bekannten Künstlern sowie verschiedenen lokalen Tanzgruppen und Kulturvereinigungen sollte nicht nur die Eröffnungsveranstaltung, sondern nahezu jeder Stopp der Karawane zu einem großen Spektakel der kulturellen Vielfalt des Landes werden. Die Bevölkerung sollte zahlreich erscheinen, um - wie es der Gouverneur der Provinz Ogooué-Ivindo, Léonard Moutsinga Kébila, ausdrückte - "die patriotische Ader und die Bürgerpflicht neu zu beleben und ein starkes und vereintes Gabun aufzubauen".10 Tägliche Berichte in den führenden Tageszeitungen, den staatlichen Fernsehkanälen und Radiosendern zeichneten das Bild eines Landes, das einen langen, erfolgreichen Weg gegangen ist und dessen kulturelles Repertoire und Ressourcenreichtum ein enormes Potential für die Zukunft darstellen. Eben ein "Gabon émergent" (aufstrebendes Gabun), wie es das politische Programm des Präsidenten Ali Ben Bongo vorsieht und wie es unmissverständlich auch das Jubiläumslogo verdeutlicht.
Doch hört man sich um, haben die meisten Gabuner wenig Interesse an dem kollektiven Erinnerungsmarathon. "Abgesehen von der politischen Elite, manchen Intelektuellen und der Presse", so erklärt der gabunische Historiker Wilson-André Ndombet gegenüber dem Magazin L’Express, "ist das Cinquantenaire ein Non-Event für die Bevölkerung".11 Die verschiedensten Ereignisse der letzten 50 Jahre und der Einfluss Frankreichs hätten, so Ndombet weiter, immer wieder die Frage aufgeworfen, ob im Falle Gabuns von einem unabhängigen, souveränen Staat überhaupt die Rede sein könne. Die meisten Gabuner fühlten sich nicht als Eigentümer, sondern vielmehr als Mieter ihres Landes, was die Feierlaune wohl etwas dämpfen könnte.
Darüber hinaus kritisieren viele Gabuner die enormen Kosten des Jubiläums. Mit 35 Milliarden FCFA (ca. 52,5 Mio. Euro), die für die Kommunen Libreville und Owendo (eine Hafenstadt, ca. 20 km südlich der Hauptstadt) bestimmt sind, liegt Gabun an der Spitze der teuersten Jubiläumsfeiern.12 Das Unverständnis der Bevölkerung ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass z.B. viele Lehrer seit Jahren auf die Auszahlung ihrer Gehälter warten. Und obwohl es beispielsweise genügend Straßen in der Hauptstadt gäbe, die dringend ausgebessert werden müssten, wird ausgerechnet der Boulevard de l’Indépendance, die am besten gepflegte Straße Librevilles entlang des Meeres, aufgerissen und für die Militärparade neu asphaltiert.
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9 Vgl. Ministère de la communication, de la poste et de l‘économie numérique (2010): La provinciale du cinquantenaire, zitiert nach http://www.gabon50ans.ga/brochure.php; Gaboneco (2010): Gabon: Le patrimoine culturel 50 ans après les indépendances, 20.05.2010, zitiert nach http://gaboneco.com/show_article.php?IDActu=18354 am 08.07.2010. 10 Gabonnews (2010): Le gouverneur appelle les populations au sens de solidarité, de responsabilité et d’hospitalité, 28.05.2010, zitiert nach: http://www.gabonews.ga/index.php/evenements/50-ans/la-provinciale-du-cinquantenaire/2105-gaboncinquantenaireogooue-ivindo-le-gouverneur-appelle-les-populations-au-sens-de-solidarite-de-responsabilite-et-dhospitalite. 11 Ndombet, Wilson-André (2010): Les gabonais ne sont que locataires de leur pays, L’express international, 3077: 66-67. 12 Gefolgt von der Côte d’Ivoire mit 20 Millirden FCFA (30,5 Mio. Euro), dem Congo mit 17 Milliarden FCFA (26 Mio. Euro) und Kamerun mit 14 Milliarden FCFA (21,3 Mio. Euro), vgl. Mahmadou Camara (2010): Cinquantenaire à vendre, Jeune Afrique, hors-série 24: 16-17.