"Wir nennen es das 'Museum der Einheit', denn wir möchten, dass sich alle Stämme Nigerias lieben." Mit diesen Worten begann unsere Führung durch das Nationalmuseum, das "Museum of National Unity" in Ibadan, der Hauptstadt des Bundesstaates Oyo im Südwesten Nigerias und einem Zentrum der Yoruba-Kultur. Mit einer beeindruckenden Menge von Objekten - unterteilt in Musikinstrumente, Masken und Kostüme sowie Handwerk - wird in drei Ausstellungsräumen nationale Einheit repräsentiert. Die Objekte sind stets so gruppiert, dass sie die Ähnlichkeiten betonen, die bspw. Töpferware aus allen Landesteilen Nigerias miteinander verbindet. Der vierte und letzte große Ausstellungsraum ist jedoch ganz der Yoruba-Kultur vorbehalten, auf die man hier sehr stolz ist. Und so sind auch die Jubiläumsfeiern der Unabhängigkeit in Oyo von regionalem Stolz geprägt. Egal, ob auf Programmheften, Plakaten, Bannern oder Käppis, immer heißt es: "Oyo State celebrates…" oder "Nigeria@50 in Oyo". Regionale Identität ist hier also mindestens so wichtig wie die nationale Identität. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass die einzigen traditionellen Tanz- und Musikgruppen, die bei der Parade am Vormittag des 1. Oktober auftraten, regionale Yoruba-Gruppen waren. Allerdings blieb an diesem Morgen nur wenig Raum für kulturelle Darbietungen, wie uns der Leiter der regionalen Kulturbehörde, der verantwortlich für die Auswahl der Gruppen und die Choreographie ihrer Tänze war, mit Bedauern erklärte. Die geplanten Tanz- und Musikvorführungen mussten aufgrund des straffen Zeitplans des Gouverneurs, der bei allen Aktivitäten am Jubiläumstag präsent sein wollte, ausfallen.
Noch vor der Parade führte Gouverneur Akala eine symbolische Baumpflanz-Aktion an. 50 Mitglieder der Regierung des Bundesstaates sollten im zentralen Park des administrativen Viertels der Stadt jeweils einen Baum pflanzen. Zu Ehren des Gouverneurs hatte das Forstministerium, das für diese Aktion verantwortlich war, ganz bewusst den Setzling eines Obstbaumes ausgesucht. Die Bevölkerung könne dann später die Früchte des Gouverneur-Baums essen. Bei der Aktion am Morgen des 1. Oktober war allerdings außer den Regierungsoffiziellen und einer Gruppe von traditionellen Preissängern, die das Lob des Gouverneurs und anderer Ehrengäste besangen, kein breiteres Publikum präsent. Und die Pflanzung verlief viel zu eilig, als dass Zeit geblieben wäre, um die Details des künftigen Nutzens der Bäume zu verkünden. Nach gerade einmal 5 Minuten auf der Ehrentribüne und einem einzigen Schäufelchen Erde in das Pflanzloch verließ Gouverneur Akala das Geschehen wieder und zog in der von Sicherheitspersonal abgeschirmten Wagenkolonne von dannen. Die zurückgebliebenen Forstbeamten mussten daraufhin die Bäume selbst einpflanzen und wässern.
Direkt im Anschluss fand im ziemlich heruntergekommenen Stadion von Ibadan die traditionelle Unabhängigkeitsparade statt, bei der sich Polizisten, Feuerwehr, Schulkinder und diverse Vereine, aber auch politische Unterstützer des Gouverneurs präsentierten. Neben Fahnen und Kostümen in den nigerianischen Nationalfarben grün und weiß waren T-Shirts der Partei und der emblematische Schirm, das Symbol der in Oyo State regierenden People's Democratic Party (PDP), feste Bestandteile dieses Programmpunkts. Und sowohl im Stadion, das zumindest zur Hälfte gefüllt war - v.a. mit Eltern und Vereinsmitgliedern sowie PDP-Anhängern, als auch in der Stadt zeigten viele Plakate und Banner zum Unabhängigkeitsjubiläum Gouverneur Akalas Gesicht. Auch das Podium, von dem aus der Gouverneur die Parade abnahm, war rechts und links noch zusätzlich mit seinem Portrait geschmückt – geradezu eine Selbstinszenierung als heilige Trinität.
Aus unseren Gesprächen mit Taxifahrern und -mitfahrern, Hotelangestellten, Museumsführern, Restaurantbesuchern, Akademikern und vielen anderen ebenso wie aus der Lektüre diverser regierungsfreundlicher und -kritischer Zeitungen kristallisieren sich drei verschiedene Grundhaltungen zum Jubiläum heraus. Vertreter der ersten Position sehen keinerlei Anlass zum Feiern: "Nigeria@50: What is there to celebrate?", titelt etwa Adeola Aderounmo im Punch (2. Oktober 2010). Es sei falsch, aufwändig und prunkvoll zu feiern, weil die Regierungen seit 1960 allesamt kläglich und schändlich versagt hätten. Nigeria sei einst Afrikas stolzer Riese gewesen, hätte aber seine reichen Ressourcen verschwendet. Die Elektrizitätsversorgung und überhaupt die Infrastruktur seien in katastrophalem Zustand, das Wasser sei knapp, die Gesundheitsversorgung vernachlässigt, das Bildungssystem ruiniert und die Demokratie ein Scherbenhaufen. Fast alle Jubiläumskritiker machen korrupte Eliten und unfähige Regierungen für den bedauernswerten Zustand des Landes verantwortlich. Nigeria sei noch nicht wirklich frei, der Kolonialismus lediglich durch Neokolonialismus und Vetternwirtschaft ersetzt, schreibt Eneruvie Enakoko im Punch (2. Oktober 2010) und fügt an: Die Nigerianer seien "Flüchtlinge und Sklaven im eigenen Vaterland", nur dass die Sklavenhalter von heute nicht mehr die Europäer, sondern die eigenen Leute seien.
Eine ähnliche Position vertritt auch die separatistische MEND-Bewegung, die gegen die ökonomischen Missstände und die politische Marginalisierung des ölproduzierenden Niger-Deltas protestiert und angeblich die Verantwortung für die zwei Autobomben übernommen hat, die am Morgen des Nationalfeiertags in Abuja explodierten. Ganz zuverlässige Zahlen liegen noch nicht vor, aber vermutlich starben 14 Menschen, über 60 Personen wurden verletzt. Während die schrecklichen Ereignisse am Nationalfeiertag ausführlich weder in den nigerianischen Medien noch in Goodluck Jonathans Ansprache zur Parade erwähnt wurden, sprach der nigerianische Präsident später von den Bombenopfern als Märtyrer, die den Preis der nigerianischen Einheit bezahlt hätten und deren Tod den Baum der Freiheit der Nation wässern würde.
Diese Bildsprache verweist auf die zweite Position, die von der Regierung und ihren Unterstützern, aber auch von einigen anderen Gruppen in Nigeria vertreten wird. Sie sehen v.a. in dem relativen Frieden des Landes einen Grund zum Feiern. Immerhin habe Nigeria, das von Anfang an mit sezessionistischen Bewegungen und in den 1960er Jahren mit dem Biafra-Krieg zu kämpfen hatte, die Einheit aufrechterhalten können. Es sind auch die Vertreter dieser Position, die die Helden des Landes feiern. "Es ist Unabhängigkeitsjubiläum, und Nigeria ist immer noch stark!", lautete zum Beispiel der Aufruf zu einem Jubiläumslauf in Abuja, der ein "Zeugnis für die gute Vorsehung und den niemals ermüdenden Geist des vereinten nigerianischen Volks" ablegen wollte. Die Initiative unter dem Namen "Das Land ist gut" animierte: "Willst du zeigen, dass du noch an Nigeria glaubst? Dann marschiere mit …" (Anzeige in This Day, 30. September 2010).
Die dritte Position schließlich will v.a. in die Zukunft blicken. "Nigeria@50: ein gefallenes Haus wieder aufbauen!", "Nigeria: Licht am Ende des Tunnels" – so titelten zwei Kommentatoren in der Nigerian Tribune (30. September 2010). "Das Beste kommt erst noch", ließ der Gouverneur von Ondo State verlautbaren (The Nation, 2. Oktober 2010). Und The Nation druckte in einer mehrseitigen Sonderbeilage der Samstagsausgabe der Zeitung, welche Visionen einige "bekannte und verdiente Nigerianer" für Nigeria in 50 Jahren formulierten: "ein Land, von passionierten und visionären Führern regiert", "ein Land, in dem die Staatsbürger wirkliche Vorteile davon haben, Nigerianer zu sein", "ein Land, das wirklich föderal organisiert ist und in dem die Regierung nicht in gecharterten Flugzeugen ins Ausland fliegt, während die Bevölkerung zu Hause darbt und stirbt" (The Nation, 2. Oktober 2010). In diesem Sinne rief auch Präsident Goodluck Jonathan in seiner Ansprache zum 1. Oktober die Nigerianer auf, "mit der Vergangenheit zu brechen und in eine bessere Zukunft zu schreiten" (abgedruckt in Punch, 2. Oktober 2010). Nigeria sei ein Volk und eine Familie mit enormen natürlichen Ressourcen und menschlichen Talenten. Das "neue Nigeria", das es zu bauen gelte und in dem jeder sich zu Hause fühlen sollte, brauche aber die Mitarbeit von allen: "Es ist nicht genug, davon zu sprechen, wie großartig Nigeria sein könnte, sondern es ist auch unsere gemeinsame Pflicht, Nigeria groß zu machen" - auf der Grundlage von Patriotismus, harter Arbeit, Integrität und Verpflichtung auf "good governance". Und natürlich endete Jonathans Rede - ganz ähnlich wie die von Gouverneur Akala - damit, dass der Weg in diese wunderbare Zukunft seiner guten Führung bedürfe und er also 2011 wiedergewählt werden müsste.