Als ich am 24. Juni nach Antananarivo zurückkehre, bin ich von den Veränderungen innerhalb der letzten Woche beeindruckt. Es ist, als hätte jemand mit einem grün-weiß-roten Pinsel einmal dick über die Hauptstadt gemalt. Überall Wimpel, Fähnchen, Lampions, der schwarze Engel über dem Lac Anosy hat plötzlich goldene Flügel. Noch immer wird fleißig gepinselt, die Tunnel haben neue Muster an den Wänden und neue Lampen an der Decke. Freilich sind sie ansonsten genauso undicht und verpestet wie eh und je.
Am 25. Juni, dem Vorabend des Unabhängigkeitstags, ist die Feierstimmung in der Innenstadt bereits greifbar. In unserem Viertel ist noch kaum etwas zu spüren, aber im Stadtzentrum wimmelt es von Menschen und Ständen mit Bier, Softdrinks, Rum, Chips und Fleischspießchen. Wer jetzt schon ein Erinnerungsfoto möchte, kann sich in Pavillons vor wahlweise kitschigen und/oder patriotischen Panoramen knipsen lassen. Zur Auswahl stehen Sofas in gold, rosa oder den Nationalfarben, Mini-Motorräder, ein Pony und eine winkende Mickeymaus. Vor dem Bahnhof steht ein kleines Riesenrad, überall hört man laute Musik. Selbst die Straßenkinder haben das Betteln heute vergessen und werfen stattdessen begeistert den Passanten Böller vor die Füße. Der Verkehr ist weniger geworden und Essensgeruch übertüncht den normalen Mief der Abgase.
Ich besuche das Centre Rarihasina und treffe auf missmutige, frustrierte Künstler, die die Welt nicht mehr verstehen. "Die Menschen sagen, es ist Krise, überall sind Bettler, und es fehlt an allem. Trotzdem kaufen sie Feuerwerkskörper, nur um sie abzufackeln, und glitzernden Ramsch, den sie nicht brauchen. Aber für die Kunst hat niemand Interesse, ganz zu schweigen von Geld", sagt die Malerin RFaral. "Millionen werden ausgegeben, um ausländische Künstler einzuladen, aber wir können uns kaum über Wasser halten, uns hat niemand gefragt!"
Ihr Mann Hemerson, Künstler, Schriftsteller und Kunsthistoriker, hat im Cercle Germano-Malgache eine Lesung unter dem Titel "Cri de Liberation" - "Ruf der Befreiung" abgehalten. Das war sein Beitrag zum Cinquantenaire. Er fordert die Jugend bei Lesungen und an der Universität dazu auf, sich zurückzubesinnen auf madagassische Werte und Traditionen, ihren Geist zu öffnen für die Kultur ihres Landes und sich für seine Zukunft zu engagieren. Normalerweise, sagt RFaral, habe man vom Centre aus jedes Jahr etwas organisiert zum Unabhängigkeitstag. Aber in diesem Jahr sei Olombelo Ricky in Europa unterwegs und dank der Krise fehle es an allem, so dass gerade das goldene Unabhängigkeitsjubiläum für die Künstler im Centre Rarihasina bedeutungslos und ungefeiert bleibt. Nicht einmal Lampions hat RFaral diesmal gekauft.
Als es dunkel wird, machen viele Geschäfte früher als sonst Feierabend und ein einziger Menschenstrom zieht auffällig ruhig in Richtung Lac Anosy, um das große Feuerwerk zu sehen, das wie jedes Jahr heute dort abgeschossen wird. Wir fragen uns, wo die ganzen Papierlampions sind, die in den letzten Wochen überall verkauft wurden. Doch offensichtlich hat aus China importiertes Plastikspielzeug der Tradition des Lampionumzugs ein Ende bereitet. Die meisten Kinder tragen Laserschwerter, blinkende Krönchen, Teufelshörner oder leuchtende Zauberstäbe. Um den See herum ist alles voll mit Menschen auf der Suche nach der optimalen Beobachtungsposition für das Feuerwerk.
Die Show beginnt mit Wasserfontänen, auf die u.a. Bilder sämtlicher bisheriger Präsidenten projiziert werden. Dem folgt ein wirklich beeindruckendes Feuerwerk, das eine ganze Stunde dauert. Im Nachhinein wird es in den Zeitungen − je nach Einstellung der Journalisten − entweder gelobt für seine außerordentliche Schönheit oder kritisiert mit der Frage, was man mit dem guten Geld alles Nützlicheres hätte anstellen können. Einige Menschen bemerken erstaunt, dass die obligatorische Rede des Präsidenten, die normalerweise vor dem Feuerwerk vom Radio übertragen wird, in diesem Jahr kommentarlos entfällt.
Wir beobachten das Treiben noch eine Weile von einem der unzähligen kleinen Bierstände aus, plaudern mit den gut gelaunten Menschen um uns herum und beenden den Abend mit madagassischen Freunden auf einer der vielen Partys, auf die sich die Menge nach dem Feuerwerk verteilt.
Über dem Morgen des 26. Juni liegt noch der Schleier des vergangenen Abends, der besonders für viele Jugendliche sowieso den eigentlichen Höhepunkt des Fests markiert hat. Auf der Avenue de L'Indépendance ist um 8 Uhr noch wenig los, sieht man von den Gestalten ab, die in Katerstimmung umherschlurfen oder wieder (noch?) an den Ständen zusammensitzen. Auffällig ist heute die große Polizei- und Militärpräsenz. Viele Straßen sind für die Parade abgeriegelt, Busse fahren nicht wie sonst und überall sorgen uniformierte Herren mit strengem Blick dafür, dass jeder in die richtige Richtung läuft. Wir folgen einem kleinen Strom Menschen in Richtung Lac Anosy, eigentlich mit dem Vorhaben, die Einweihungszeremonie des neuen Unabhängigkeitsdenkmals vor dem Stadion Mahamasina, wo auch die große Militärparade stattfinden wird, zu beobachten.
Unterwegs werden Fähnchen und selbst gebastelte Papphüte mit dem Unabhängigkeitslogo verkauft. Die Gegend um das Stadion herum ist abgeriegelt, unser Denkmalplan undurchführbar. Stattdessen führt uns der Menschenstrom ganz einfach mitten ins Stadion hinein, das wir eigentlich aufgrund von Sicherheitswarnungen hatten meiden wollen. Wir sind nach all den Warnungen erstaunt über die Ruhe, Ordnung und Friedlichkeit, die hier herrschen, und beschließen zu bleiben.
Gleich neben uns sitzen einige hundert Schüler, in Nationalfarben gekleidet und zu einer Flagge gruppiert, die von einem Anheizer mit Megafon die letzten Instruktionen darüber erhalten, wann auf welche Art zu jubeln ist. An den Eingängen wurden an alle Ankömmlinge Fähnchen und aufblasbare Klopfer verteilt, sodass sich uns ein Bild des begeisterten Patriotismus bietet. Allerdings scheint niemand von selbst auf die Idee gekommen zu sein, eine Flagge mitzunehmen. Das Publikum ist bunt gemischt, dennoch hat man den Eindruck, dass gerade diejenigen hier sind, die nicht oft in den Genuss kostenloser Unterhaltung kommen.
Auf einem extra für diesen Anlass installierten Großbildschirm wird die Einfahrt des Übergangspräsidenten rund um den See, vorbei an salutierenden Militärs, zu feierlicher Musik übertragen. Der Anblick von Andry Rajoelina sorgt um uns herum für Heiterkeit. Beinahe schüchtern hält sich dieser Mann, der vor einem Jahr nach seinem Putsch noch in allen Zeitungen abgebildet war, wie er stolz das Victory-Zeichen vor einer jubelnden Menge machte, nun an seinem Jeep fest. Niemand jubelt diesmal am Straßenrand. Als Rajoelina schließlich das Stadion betritt, wird dennoch begeistert geklatscht, geklopft und gebrüllt. Dabei sind er und seine Frau in dem Pulk aus wichtigen Menschen und Sicherheitsleuten kaum auszumachen. Beinahe unauffällig nehmen alle ihre Plätze ein und bekommen ebenfalls Papierfähnchen in die Hand gedrückt. Für den Rest des Vormittags steht nur noch das Militär im Mittelpunkt, eine Institution, die parallel zur Unabhängigkeit der Nation selbst ihr 50-jähriges Bestehen feiert.
Die Parade beginnt. Ein Moderator stellt die vorbeimarschierenden Regimente und deren oberste Befehlshaber vor. Unsere fahnenfarbigen Nachbarn werden jeweils zum Jubeln aufgerufen. Zu Beginn jubelt die Menge mit, wendet aber mit der Zeit ihre Aufmerksamkeit lieber den Eis- und Erdnussverkäufern zu. Nur Höhepunkte wie die Fliegerstaffel werden noch beklatscht. Auf dem Großbildschirm wird die Live-Übertragung des Fernsehsenders TVM gezeigt. Der Übergangspräsident wedelt freundlich mit seinem Fähnchen im Takt der Blaskapellen den Defilierenden zu, die Moral der Flagge neben uns beginnt zu sinken. Aus Fähnchen gefaltete Flugzeuge fliegen umher; wer erwischt wird, kassiert eine Drohung der Ordnungsbeauftragten.
Das Défilée zieht sich über eine Stunde hin. Sogar Taucher und die Feuerwehr sind mit von der Partie. Später erfahren wir aus der Zeitung, dass die Einheit aus Fort Duchesne, die vor einem Monat gemeutert und sich eine Schießerei mit den staatlichen Spezialkräften geliefert hat, als einzige Einheit der Parade ferngeblieben ist. Als der letzte Soldat im Gleichschritt aus dem Stadion marschiert ist, verschwinden Präsident und Ehrengäste so leise, wie sie gekommen sind, und die Menge stürmt das Grün, um einen guten Platz vor der Bühne zu ergattern, denn jetzt beginnen die Konzerte. Neben vielen nationalen und internationalen Künstlern wird als Höhepunkt des Abends der madagassische Star-Musiker Rossy auftreten.
Draußen vor dem Stadion besichtigen wir das frisch eingeweihte Unabhängigkeitsdenkmal. Polizisten sorgen dafür, dass Erinnerungsfotos ordentlich und der Reihe nach geschossen werden. Wie die gesamten Feiern war auch der Bau des Denkmals offensichtlich ein kurzfristig improvisiertes Projekt, denn noch Tage nach der Einweihung wird daran herumgewerkelt. Inzwischen sind einige der goldenen Buchstaben bereits wieder abgefallen, das Gerüst um den teilweise vergoldeten Engel über dem Lac Anosy steht hingegen noch immer.
Die Soldaten, die eben noch feierlich unter dem Motto des Jubiläums "Fierté nationale"/"nationaler Stolz" durch das Stadion marschiert sind, mischen sich nun entspannt unter die Feierlustigen oder fahren gut gelaunt hupend durch die Menge und rufen Frauen Anzüglichkeiten hinterher. Später entdecken wir einen Trupp von ihnen, der wohl die Sicherheitsvorkehrungen der Regierung auf der Avenue de L'Indépendance repräsentieren soll, schlafend bzw. Karten spielend auf einem Lastwagen. Bezeichnend für die heutige Lage, die trotz aller vorherrschenden Kritik am Regime und den Feiern an sich den ganzen Tag über entspannt bleibt.
Gegen Abend ist das Stadion brechend voll, ein suboptimaler Sound ist jedoch dafür verantwortlich, dass die Stimmung nur im Umkreis von fünf Quadratmetern vor den Lautsprechern wirklich kocht. Trotzdem – jeder scheint irgendwie dabei sein zu wollen beim größten Event des Landes.
Wie sich die Feiern außerhalb von Antananarivo zugetragen haben, werden wir im Laufe der nächsten Wochen erfahren. Die Resümees hier in der Hauptstadt fallen unterschiedlich aus und reichen von "die größte Party, die das Land je gesehen hat" bis zum "größten Flop der Geschichte".