Begibt sich der Ethnologe auf die Suche nach dem, was die madagassische Nation eint, was alle Madagassen miteinander verbindet, stößt er immer wieder auf die Ahnen. Alle Gruppen Madagaskars glauben auf die eine oder andere Weise, dass die verstorbenen Vorfahren das Leben der Madagassen beeinflussen können. Daher bedarf es aufwendiger Rituale, um sich das Wohlwollen der Ahnen zu sichern. Das bekannteste dieser Rituale ist die Famadihana, die Totenumwendung oder Exhumation, die insbesondere von den Merina im zentralen Hochland der Insel praktiziert wird. Vor Kurzem wurde ich eingeladen, einer Famadihana beizuwohnen. Und während der mehrtägigen Feierlichkeit konnte ich auch ganz unverhofft beobachten, wie Symbole des modernen Staates in Gestalt von Nationalflagge und Hymne in dieses Kernelement traditioneller madagassischer Religion eingebunden werden.
Nach einer zweitägigen Reise, die u.a. eine abenteuerliche Motorrollerfahrt, eine lange Busfahrt auf holprigen Schotterstraßen und einen vierstündigen Fußmarsch beinhaltete, kam ich mit meiner madagassischen Wahlfamilie im beschaulichen Bergdorf Imanga südwestlich von Antananarivo an. Die Familie stammt von hier und die meisten meiner Begleiter haben hier gelebt, bevor sie sich entschlossen, für Studium und Arbeit in die Hauptstadt zu ziehen. Heute ist nur noch die Hälfte der sechs Häuser des Dorfes bewohnt, ganze 16 ständige Einwohner kann ich zählen.
Wie feierte man wohl an einem solchen Ort das Jubiläum der Unabhängigkeit? Diese Frage beschäftigte mich bei meinem Aufenthalt im Dorf. Immerhin waren wir doch recht weit weg von der Hauptstadt mit ihren großen Bühnen und prunkvollen Paraden, von allen Jahrmärkten und Tanzveranstaltungen in der Provinzhauptstadt und scheinbar überhaupt von staatlicher Einflussnahme. In Imanga selbst gab es auch keine spezielle Veranstaltung zum Jubiläum, abgesehen vielleicht von einem feierlichen Essen im Familienkreis. Wer aber konnte, nahm das Unabhängigkeitsjubiläum vom 26. Juni zum Anlass, sich auf den Weg in das vier Stunden entfernte Tsaratanana zu machen, aus dem wir gerade staubig und erschöpft ankamen. Eine Distanz, die für die Einwohner Imangas und der umliegenden Dörfer lange nicht so weit zu sein scheint wie für uns Städter. Schon gar nicht zu weit, um sich den Feiernden in der Stadt anzuschließen, wollte man den Nationalfeiertag gebührend begehen.
Auch die Famadihana wurde gebührend gefeiert. In den Stunden nach meiner Ankunft im Dorf trafen immer mehr Familienmitglieder ein, die eine lange, beschwerliche und teure Reise aus allen Teilen der Insel auf sich nahmen, um an diesem seltenen Ereignis teilzunehmen. In einem Lehrbuch für madagassische Kultur wäre im Eintrag zur Famadihana sicher zu lesen, dass es sich um ein wichtiges religiöses Fest zu Ehren der Ahnen handelt. Viele Madagassen gehören heute aber einer christlichen Kirche an und praktizieren die Totenumwendung nicht aus religiösem Antrieb. Schnell wird deutlich, dass es nicht nur ein Fest zu Ehren der Toten, sondern ebenso auch ein Fest für die Lebenden ist. Die meisten Anwesenden in Imanga schätzten die Famadihana als Gelegenheit, die Verwandten zu treffen; die nur alle fünf bis sieben Jahre stattfindende Feier ist ein Anlass, die gesamte Großfamilie zu vereinen. Entsprechend herzlich waren die Begrüßungen. Einige jüngere Familienmitglieder nahmen zum ersten Mal teil und kannten viele Verwandte noch gar nicht. Die Famadihana dient also auch dazu, die familiären Verbindungen zu etablieren und zu festigen sowie Angelegenheiten, die die größere Familie betreffen, zu diskutieren und zu regeln. Mein junger Begleiter konnte der Familienzusammenführung noch eine andere wichtige Seite abgewinnen: Er lernte seine Cousinen kennen und weiß nun, mit welchen Mädchen er sich nicht auf amouröse Abenteuer einlassen darf.
Inmitten der turbulenten Begrüßungen trafen zwei Ochsenkarren ein, die die für diesen Anlass erforderlichen Leckereien - vor allem Reis und Schweine und Hühnchen - herbeischafften. Nach Einbruch der Dunkelheit wurde die Famadihana offiziell eröffnet. Da der Bürgermeister der Gemeinde ein Familienmitglied ist, fiel ihm diese Aufgabe zu. In seiner Ansprache erinnerte er an den zentralen Wert der Gemeinschaft und des solidarischen Zusammenhalts für die madagassische Kultur und rief dazu auf, dieses Fest gemeinsam fröhlich und friedlich zu begehen. Anschließend wurde die Nationalhymne gespielt und die madagassische Flagge gehisst, die sich fortan immer im Zentrum der Feierlichkeiten befand. Rasch kam auf dem zentralen Dorfplatz die Feier in Gang. Auf einem aus der nahen Schule geliehenen Tisch wurden einige Flaschen Bier und Cola sowie Bonbons angeboten. Die meisten hielten sich aber an den selbstgebrannten hochprozentigen Tokagasy. Abwechselnd begleitet von Flötenmusik oder den neuesten Hits aus Antananarivo vom Band feierten die Hartgesottenen bis in die frühen Morgenstunden.
Der kommende Tag begann mit geselligem Beisammensein bei Flötenmusik. In allen Winkeln des kleinen Dorfs wurden Klatsch und Tratsch ausgetauscht, Neugeborene herumgezeigt, Domino gespielt und Zuckerrohr geknabbert. Währenddessen besprachen sich die Raiamandreny, die Ältesten der Familie. Sie waren es, die zum Fest geladen hatten und es größtenteils finanzierten. Ihnen oblag die korrekte Ausführung der bevorstehenden Zeremonie und sie waren es auch, die alle Anwesenden zum herannahenden gemeinsamen Mittagessen einluden. Nachdem sich alle an Reis und Speckschwarte gesättigt hatten, versammelte sich die Feiergemeinschaft festlich herausgeputzt um die Flagge herum zum Aufbruch.
In einem einstündigen Marsch begaben wir uns, immer angeführt vom Flaggenträger, zum etwas außerhalb des Dorfs gelegenen Familiengrab. Hier werden seit etwa 200 Jahren und 7 Generationen nach Möglichkeit alle Verstorbenen der Familie zur letzten Ruhe gebettet und hier spielte sich die eigentliche Totenumwendung ab. Bei unserer Ankunft wurde die Flagge neben dem Eingang des Grabes platziert. Nachdem ein weiteres Mal die Nationalhymne erklang, wurde das Grab geöffnet und die in Tücher gehüllten sterblichen Überreste der Familienmitglieder einzeln auf Matten ans Tageslicht geholt. Die nahen Verwandten schulterten ihre Verstobenen und stellten sich rund um das Grab auf. Auch hierbei befand sich die Nationalflagge immer an der Spitze des Zuges und markierte somit den Aufenthaltsort des ältesten Ahnen, also jenes Verstorbenen, auf den sich alle Anwesenden beziehen. Dann wurden die sterblichen Überreste in neue Stoffe gehüllt, einmal um das Grab getragen und anschließend wieder an ihren rechtmäßigen Platz zurückgelegt. Auf diese Art erwies die Familie ihren Razana, ihren Ahnen, die ihnen gebührende Ehre.
Die Flagge wachte am Eingang des Grabes, bis auch der letzte wieder zur Ruhe gebettet war. Ein letztes Absingen der Nationalhymne markierte den Schlusspunkt der Zeremonie und anschließend wurde auch die Flagge wieder eingerollt. Noch während der Eingang des Grabes wieder verschlossen wurde, machten sich die Anwesenden in der Abendsonne auf den Heimweg. Die Familie zerstreute sich wieder bis zur nächsten Famadihana, dem Wiedersehen der Toten mit den Lebenden.
Als Forscherin auf den Spuren von Staat und Nation machte mich insbesondere die zentrale Position, die Nationalflagge und Hymne einnahmen, neugierig. Wie hatten sich die Symbole staatlicher Macht in einer gesellschaftlich-religiösen Zeremonie so fest etablieren können? Man erklärte mir, dass die Flagge anzeige, dass die Famadihana rechtmäßig angemeldet sei. Im postkolonialen Madagaskar muss jede Exhumation von der zuständigen Behörde genehmigt werden. Dieser relativ kostspielige Verwaltungsakt dient v.a. dazu, die Öffnung der Gräber zu kontrollieren. Damit soll, so die offizielle Begründung, der Grabschändung und der Ausbreitung von Seuchen vorgebeugt werden.
Auf diese Weise hat die Flagge seit der Unabhängigkeit bei den Feiern der Famadihana Einzug gehalten. Dass sie aber Seite an Seite mit der Nationalhymne derart in den Mittelpunkt gestellt wird, zeugt vielleicht auch davon, wie sehr sich die Madagassen mit den Symbolen ihrer Nation identifizieren. Offenbar waren wir auch im abgelegenen Dorf Imanga nicht weit weg vom langen Arm des Staates und schon gar nicht von der Nation, zu der sich die Feiernden immer wieder bekannten.